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INSTITUT MENSCH, ETHIK UND WISSENSCHAFT

Das gemeinnützige Institut mit der anderen Perspektive


Eine Welt ohne Behinderung – Vision oder Alptraum?

Veröffentlicht als IMEW Expertise 9, 2009, ISBN 978-3-9811917-0-7 (vergriffen).

Jan Cantow, Katrin Grüber (Hrsg.)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die derzeitige Situation von Menschen mit Behinderungen ist sehr facettenreich. Die Tendenzen in Bezug auf ihre gesellschaftliche Anerkennung könnten unterschiedlicher nicht sein. Einerseits wurden mit der Verabschiedung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Jahr 2006 Gleichstellung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben als Menschenrecht anerkannt. Andererseits spiegelt sich z. B. in der Praxis der Pränataldiagnostik eine eher negative Haltung gegenüber Menschen mit Behinderungen wider.

Der Titel des gemeinsamen Fachtages des IMEW und der Hoffnungstaler Anstalten Lobetal am 30. April 2009 in Erkner, ,Eine Welt ohne Behinderung – Vision oder Alptraum?‘, hat sich diesem widersprüchlichen und mehrdimensionalen Gegenstand gestellt und erinnert an die NS-Zeit, in der die Vision einer Welt ohne Behinderung nur von wenigen hinterfragt wurde. Im Nationalsozialismus wurden ca. 400.000 Menschen zwangssterilisiert und ca. 200.000 Menschen ermordet.

Der Fachtag fand anlässlich des 100. Jubiläums der Lobetaler Einrichtung ,Heim Gottesschutz‘ in Erkner statt. Seit der Gründung im Jahr 1909 leben hier Menschen mit Behinderungen. Die vorliegende Publikation beinhaltet die Beiträge des Fachtages ergänzt um Beiträge von Sigrid Graumann, Sebastian Barsch und Präses a.D. Manfred Kock.

Die Beiträge zeigen die gesellschaftliche Verortung von ,Behinderung‘ im Spannungsfeld von elementarem Anrecht, sozialer Gleichstellung, gewünschter Teilhabe, stiller Ausgrenzung, gewollter Isolation und praktizierter Elimination in historischer Dimension, aktuellem Diskurs und gelebter Wirklichkeit.

Markus Kurth macht durch seinen Beitrag anschaulich, was der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zugrunde liegt und was alles in ihr steckt – man muss den Schatz nur heben. Die dort formulierte Anerkennung von Behinderung als Bestandteil menschlichen Lebens stellt eine Errungenschaft für alle Menschen dar. Ihr emanzipatorisches Potential liegt in der Entwicklung eines neuen Menschenbildes, das eine Abwendung von Norm- und Normalvorstellungen ermöglicht und Differenz positiv bewertet. Anhand von drei Bereichen (Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft, Bildung sowie Arbeit und Beschäftigung) zeigt der Autor, wie – entgegen der Einschätzung der Bundesregierung – der Anspruch der Konvention und die Lebensrealitäten von Menschen mit Behinderungen in Deutschland auseinander klaffen. Im Zuge des Umsetzungsprozesses ist es nun wichtig, eine öffentliche Auseinandersetzung um die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu führen.

Sigrid Graumann weist auf das innovative Potential der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen hin. Die Konvention steht in der Tradition anderer ,Gruppenkonventionen‘ wie der Frauen- und der Kinderrechtskonvention. Dies bedeutet aber keine ,Sonderrechte‘ für behinderte Menschen, sondern lediglich eine Konkretisierung und Präzisierung des allgemeinen Menschenrechtsschutze für die besonderen Gefährdungen, denen Menschen mir Behinderungen ausgesetzt sind. Darüber hinaus beschreibt sie die Anforderungen für die Bereiche Bildung, Arbeit und Wohnen sowie Medizin und Forschung und verweist abschließend auf das innovative Potenzial der UN-Konvention.

Hans-Walter Schmuhl entwickelt in seinem Beitrag Grundzüge einer Sozialgeschichte der Behinderung im 20. Jahrhundert. Am Ende des 19. Jahrhunderts zerschlug der Impetus der modernen Industriegesellschaft die seit dem Mittelalter festgefügte örtliche Armenfürsorge. Die überforderten Fürsorgesysteme konstituierten sich mehr und mehr als allgemeine öffentliche Aufgabe und wurden ein an Gewicht zunehmender Bestandteil des gesellschaftlichen Interaktionsprozesses. Schmuhls Erkenntnisinteresse ist die Bestimmung des Verhältnisses von Exklusion und Inklusion in Gestalt der Zugangsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen zu den sozialen Gütern und Kapitalien, die für die Verteilung von Lebenschancen in einer Gesellschaft notwendig sind. In einer Tour der Raison werden wichtige Bruchstellen in den gesellschaftlich vereinbarten Fürsorgezielen in Deutschland und der Bundesrepublik aufgespürt, die für den Grad an Teilhabe besondere Bedeutung hatten.

LeRoy Walters wendet sich dem Thema der sog. Vernichtung des lebensunwerten Lebens im Nationalsozialismus zu. Er zeigt auf, welchen Beitrag der Lobetaler Anstaltsleiter, Paul Gerhard Braune im Kampf gegen die ,Euthanasie‘ leistete und betont Braunes besonderes Verdienst, die Bewohnerinnen des Heimes ,Gottesschutz‘ in Erkner vor dem Abtransport und dem sicheren Tod bewahrt zu haben. Walters analysiert detailliert Braunes Denkschrift gegen die ,Euthanasie‘, ihr Zustandekommen und ihre Wirkung. Obwohl damit die ,Euthanasie‘ nicht gestoppt werden konnte, erblickt Walters in der Denkschrift einen bedeutenden Akt protestantischen Widerstandes. In diesem Kontext stellt Walters Berichte über Einzelschicksale von Menschen vor, die der ,Euthanasie‘ zum Opfer gefallen waren. Die Informationen über diese Einzelfälle lagen Braune vor. Er verwendete sie für seine Denkschrift.

Der Beitrag von Sebastian Barsch gewährt einen ausdifferenzierten Einblick in die Lebenswelten von Menschen mit Behinderungen in der DDR. Die unmittelbaren Lebensbedingungen verbesserten sich im Laufe der geschichtlichen Entwicklung. Die Bildungs-, Betreuungs- und Arbeitsmöglichkeiten von Menschen mit schwersten Behinderungen blieben dagegen unzureichend. Die Entwicklung rehabilitationspädagogischer Konzepte, die ideologischen Prämissen untergeordnet blieb, führte zu Erfolgen bei der Förderung und eröffnete – durchaus ambivalent – mehr Teilhabemöglichkeiten. Dies wurde besonders bei der Einbeziehung in den Arbeitsprozess deutlich. In der Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderungen blieb dagegen die Ausgrenzung dominant. Das Thema Behinderung wurde vom gesellschaftlichen Bewusstsein weitgehend ausgeblendet, die Fürsorge vielfach auf konfessionelle Träger ,abgeschoben‘. Die Organisation von Teilhabe war kein gesellschaftliches Ziel.

Bernward Wolf wendet sich in seinem Beitrag dem Recht auf Unvollkommenheit aus theologischer Sicht zu. In der Anerkenntnis begrenzender Individualität wird gelingendes Leben erfahrbar und gesellschaftliches Miteinander möglich. Der Autor begründet die Unzulässigkeit der Bewertung des Lebens aus der individuellen Vorfindlichkeit. Die Unantastbarkeit des Lebens resultiert aus der verdankten Existenz des Gottesgeschöpfs. Dadurch – nicht durch geschenkte Möglichkeiten – werden dem Gestaltungsspielraum des Menschen Grenzen gesetzt. Die ethischen und politischen Positionen von Kirche und Diakonie müssen von einer sich permanent verändernden Lebenswirklichkeit aus befragbar, ihre Wertmaßstäbe diskursfähig bleiben.

Manfred Kock weist im abschließenden Beitrag des vorliegenden Bandes auf Gemeinsamkeiten zwischen Menschen mit und ohne Behinderung hin. So ist das Bedürfnis nach Ansehen und Zuwendung allen Menschen eigen. Aus christlicher Sicht gilt es, einen gesellschaftlichen Konsens für den Schutz des Lebens zu entwickeln und die Wahrnehmungsfähigkeit für die Würde eines jeden Menschen zu schärfen. Der frühere Präses der EKD ruft dazu auf, für eine Vision von Gerechtigkeit und Menschlichkeit einzutreten, in der die Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit des Lebens nicht geleugnet wird. Gemeinsam mit Grenzen leben heißt, Rahmenbedingungen zu schaffen, die auch denjenigen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen, die auf Hilfe angewiesen sind.

Der Autorin und den Autoren sei herzlich für ihre Beiträge, Susanne Diehr für ihr sorgfältiges Lektorat und Katrin Grüber und Jan Cantow für die Editierung dieser Publikation gedankt, der wir eine breite Leserschaft wünschen.

Pastor Dr. Johannes Feldmann
Vorstandsvorsitzender

Dr. Rainer Norden
Kaufmännischer Vorstand

Martin Wulff
Fachbereichsleiter Behindertenhilfe

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Die UN-Konvention und die Folgen für das Menschenbild – unentdeckte Seiten eines besonderen Menschenrechtsdokuments 1

Markus Kurth

Am 13. Dezember 2006 verabschiedete die UN-Vollversammlung das Menschenrechtsübereinkommen über die Rechte behinderter Menschen. Am 30. März 2007 gehörte die Bundesrepublik Deutschland zu den Erstunterzeichnerstaaten. Am 04.12.2008 ratifizierte der Deutsche Bundestag mit den Stimmen aller Fraktionen die Konvention, die dann nach Zustimmung durch den Bundesrat am 26. März dieses Jahres in Kraft trat. Ich bin nicht der Einzige, der in dieser UN-Konvention eins der bedeutendsten Dokumente in der Geschichte der Entwicklung der Menschenrechte sieht.

Ebenso wie der Leiter des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Heiner Bielefeldt, bin ich der Meinung, dass in keiner internationalen Menschenrechtskonvention der Empowerment-Ansatz so prägnant zum Tragen kommt wie in der Konvention über die Rechte von Personen mit Behinderungen. Die formulierten Befähigungsansprüche auf Selbstbestimmung, Diskriminierungsfreiheit und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe für Menschen mit Behinderungen werden den Menschenrechtsdiskurs verändern. Zum ersten Mal werden Menschenrechte nicht ausschließlich als Abwehrrechte gegen den Staat begriffen. Nach dieser, der ersten großen Menschenrechtskonvention des 21. Jahrhunderts, stehen staatliche und gesellschaftliche Institutionen in der Pflicht, den Möglichkeits- und Handlungsraum von Menschen zu garantieren und durch aktives Handeln möglich zu machen. Es gilt nach diesem Menschenrechtsdokument nicht nur, die Menschenwürde durch das Unterlassen von staatlichen Übergriffen zu garantieren, sondern gerade durch staatliches Tätigwerden überhaupt erst zu ermöglichen. Viele Beobachterinnen und Beobachter gehen davon aus, dass die Anspruchsrechte auf Befähigung ihre Wirkung auf weitere Gruppen – weit über den Kreis der Menschen mit Behinderungen hinaus – entfalten. Die Konvention gibt damit wichtige Impulse für eine Weiterentwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes. Es eröffnet sich meines Erachtens auch eine Perspektive für eine neue Phase der Entwicklung sozialer Menschenrechte.

Wie konnte es dazu kommen, dass erstmals Phänomene wie gesellschaftliche Ausgrenzung, Diskriminierung, rechtliche Entmündigung und medizinische Zwangsbehandlung nicht bloß als gesellschaftliches Übel, sondern richtigerweise als Verletzung von Menschenrechten bezeichnet wurden? Der Kern für diese Antwort liegt in der Entwicklung eines anderen Menschenbildes für Menschen mit Handicaps, bzw. genauer: in der Entwicklung eines anderen Menschenbildes für alle Menschen, die nicht den herrschenden Vorstellungen von Normalität entsprechen.

Es war in den Verhandlungen lange umstritten, ob in der UN-Konvention der Versuch gemacht werden soll, den Begriff der Behinderung zu definieren. Im Konventionstext selbst findet sich keine Definition, aber in der Präambel wird eine Begriffsbestimmung vorgenommen, die sich an der Logik der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, kurz: ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) orientiert. Unter Absatz (e) der Präambel wird Behinderung als ein sich verändernder Zustand – als Prozess – beschrieben, der aus der Interaktion zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und Barrieren in der Einstellung sowie der Umwelt entsteht und im Ergebnis die gleichberechtigte, uneingeschränkte und wirksame Teilnahme an der Gesellschaft behindert. Klaus Lachwitz, der Justiziar der Lebenshilfe, stellt ebenso lapidar wie zutreffend fest: ,Die Bedeutung dieses Satzes kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden‘.

Denn dieser Satz greift fundamental die Ursachen von Ausgrenzung an: Behinderung – ja Benachteiligung schlechthin – wird als soziale Konstruktion begriffen. Wer konstruiert? Ein Netz definitionsmächtiger, ressourcenstarker und durchsetzungsfähiger Akteure, die nicht unbedingt bewusst organisiert sein müssen, die nicht einmal die Bevölkerungsmehrheit sein oder repräsentieren müssen. Im Ergebnis erzwingt dieses Netz eine bestimmte Definition von Normalität. Über den gesellschaftlichen Diskurs, rechtliche Normen und Sanktionsdrohungen wird diese Definition von Normalität als gesellschaftliche Wirklichkeit rationalisiert und reproduziert.

Am Beispiel des Geschlechterverhältnisses in der Erwerbsarbeit lässt sich die Funktionsweise gut verdeutlichen: Jahrzehntelang waren Frauen in der Bundesrepublik Deutschland fast ausschließlich in die Sphäre der familiären Reproduktion verwiesen. Ihre Zugänge zu Erwerbsarbeit waren eingeschränkt und sind es vielfach noch. Diskriminierung und Chancenungleichheit sind bis zum heutigen Tag das Resultat eines gesamtgesellschaftlichen Arrangements von Normen, Wertsetzungen und Praktiken, die in ihrer Gesamtheit eine soziale Konstruktion systematischer – ja systemisch eingelassener – Behinderung von weiblichen Erwerbs- und Karrierechancen darstellen.

Das Alleinverdienermodell begünstigende Ehegattensplitting, die beitragsfreie Mitversicherung von Ehegatten und die Witwenrente stellen gewissermaßen das harte steuer- und sozialrechtliche Gerüst dieser sozialen Konstruktion dar. Noch bis 1974 gab es sogar eine harte familienrechtliche Strebe in Form des Zustimmungserfordernisses des Ehemannes bei Arbeitsaufnahme seiner Ehefrau. Weitere Bestandteile der Frauen benachteiligenden sozialen Konstruktion von Erwerbsarbeit würde ich als halbharte Bestandteile bezeichnen, weil sie nicht gesetzlich kodifiziert sind.

Dies bedeutet indes nicht, dass sie nicht weniger effektiv die Erwerbsbeteiligung von Frauen behindern. Hierunter fasse ich beispielsweise die mangelhaften Kinderbetreuungsmöglichkeiten, die Lohnstruktur in klassischen Frauenberufen, das Vorhandensein klassischer Frauenberufe schlechthin sowie die Rekrutierungspraktiken für Führungskräfte. Und schließlich gibt es die wenig fassbaren, weichen Seiten der sozialen Konstruktion, die Benachteiligung verstärken – wie abwertende Rollenbeschreibungen (,Rabenmutter‘), unausgesprochene Unternehmenskulturen (z.B. überzogene Anwesenheitserwartungen) oder ,Good Old Boys-Netzwerke‘. Dieser knappe Aufriss der Behinderung von Frauen im Erwerbsleben mag veranschaulichen, wie vielschichtig, wie komplex und wie hartnäckig behindernde Umweltfaktoren sein können.

Eine Perspektive auf Behinderung, die im Wechselverhältnis zwischen Mensch und Umwelt die Bedingungen zur Herstellung von Inklusion sucht, vermag allerdings eine wesentlich breitere Auseinandersetzung mit Behinderung als bisher. Noch bis heute ist ein Verständnis von Behinderung verbreitet, das eine Behinderung als körperliches, psychisches oder mentales Defizit sieht (das so genannte medizinische Modell von Behinderungen). Entsprechend steht das Ziel des Ausgleichs der Defizite im Zentrum sozialstaatlicher Politiken der Fürsorge, Rehabilitation und Integration – auch wenn mit dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX), dem Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und dem Allgemeinen Gleichstellungsgesetz (AGG) erste Schritte zu einem teilhabeorientierten Verständnis von Behindertenpolitik gemacht wurden. Doch auch beim SGB IX hat sich der Gesetzgeber nicht zu einem ICF-basierten Behinderungsbegriff durchringen können.

Dies könnte sich mit Hilfe der UN-Behindertenrechtskonvention in den nächsten Jahren vielleicht ändern. Denn wenn Behinderung als Prozess in Interaktion mit gesellschaftlichen Bedingungen gefasst wird, so steht ungleich stärker als bisher der Abbau der Barrieren, Ausbau der Instrumente zur Ermöglichung von Teilhabe und Befähigung – kurzum: das Ziel der Inklusion im Mittelpunkt. Daher ist der Begriff der ,Inklusion‘ von strategischer Bedeutung. Und daher war die heftige Kontroverse im Jahr 2008 um die amtliche deutsche Übersetzung zwischen Bundesregierung auf der einen Seite und Behindertenverbänden sowie den behindertenpolitischen Sprechern des Deutschen Bundestags auf der anderen Seite alles andere als eine Nebensächlichkeit – letztlich ging es und geht es um die Deutungshoheit und darum, ob es gelingt, die soziale Konstruktion von Behinderung grundsätzlich zu verändern.

Mit der Übernahme des sozialen Modells von Behinderung stellt die UN-Konvention nichts weniger dar als die Anerkennung von Behinderung als Bestandteil menschlichen Lebens. Weiter gedacht: Die Anerkennung von ,Anderssein‘ als Bestandteil menschlichen Lebens wird vorangetrieben. Setzte sich diese Auffassung mehrheitlich in der Gesellschaft durch (und das ist mein Ziel), führte dies in der Konsequenz dazu, dass es kein ,Anderssein‘ mehr gibt, sondern nur noch ein ,Sosein‘. Damit verbunden dürfte eine Aufwertung all jener Umgangsweisen und Praktiken verbunden sein, derer sich die heute noch als ,unvollkommen‘ Stigmatisierten bedienen.

Der Diversity-Ansatz führt nach Einschätzung von Heiner Bielefeldt dazu, dass manche Formulierungen der Konvention eine Nähe zu den Dokumenten des kulturellen Minderheitenschutzes aufweisen. Dahinter stünde die Einsicht, dass die eigenen Kommunikationsformen, die Menschen mit spezifischen Behinderungen – etwa die Gehörlosen – ausgebildet haben, nicht nur ein Notbehelf sind, mit dem kommunikative ,Defizite‘ kompensiert werden, sondern genuine Kulturerrungenschaften darstellen, die gesellschaftliche Wertschätzung und staatliche Förderung verdienen. Der Paradigmenwechsel, den die Behindertenkonvention darstellt, könnte anschaulicher kaum herausgestellt werden.

Die mit der Konvention postulierte Akzeptanz des ,Soseins‘ ist ein wichtiger Beitrag zur Humanisierung der Gesellschaft! Sie hat das Potential, auch eine Antwort auf die Gefahr neuer Ausgrenzungen darzustellen. In dem Maße, in dem Beschäftigte zusehends die Rolle eines Arbeitskraftunternehmers einnehmen (müssen) und ihnen mithin die individuelle Verantwortung für das einwandfreie Funktionieren zugewiesen wird, sind die neuen Dogmen der sozial konstruierten Normalität zunehmend geeignet, neue Formen der Exklusion hervorzubringen. In der ,Aktivgesellschaft‘ nach Lessenich ist jeder, der sich nicht fit hält, sich nicht weiterbildet, raucht oder sich gar den Zumutungen gewisser Arbeitsverhältnisse wie Niedriglohnbeschäftigung zu entziehen versucht, beinahe ein wandelndes Standortrisiko, mindestens aber ein potentieller fiskalpolitischer und volkswirtschaftlicher ,Schadensfall‘. Ein solches Verständnis von Eigenverantwortung – so es sich denn weiter verbreitet – ginge mit neuen Diskriminierungen gegenüber sich abweichend verhaltenden Menschen einher. Die von der Großen Koalition beschlossenen Leistungsausschlüsse in der Gesetzlichen Krankenversicherung für Hauterkrankungen und Entzündungen nach Tätowierungen bzw. Piercings zeigen deutlich, dass diese neuen Diskriminierungen mehr als eine vage Befürchtung darstellen. Vor diesem Hintergrund ermöglicht die UN-Konvention über die Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen, eine universelle Forderung an Staat und Gesellschaft zu stellen: Anderssein nicht zu diskriminieren, sondern Sosein ist zu ermöglichen. Anders ausgedrückt:

Je größer die Diskriminierungsfreiheit und Barrierefreiheit in einer Gesellschaft ist, je schneller die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit hergestellt wird, desto kleiner wird die Zahl behinderter und ausgegrenzter Menschen zukünftig sein und desto weniger wird die Beeinträchtigung eines Menschen diesen daran hindern, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Unter dem Aspekt der Möglichkeit des Soseins verwundert es übrigens nicht, dass die Würde – sehr viel direkter als in anderen Menschenrechtskonventionen – auch als Gegenstand notwendiger Bewusstseinsbildung angesprochen wird. Im Ergebnis kann dieses Menschenrechtsdokument alle Mitglieder der Gesellschaft von dem Zwang entlasten, sich den Norm- und Normalvorstellungen der übermächtigen, definitionsmächtigen Kollektive zu unterwerfen. Es stellt daher eine emanzipatorische Errungenschaft ersten Ranges dar, die so noch längst nicht erkannt worden ist.

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Der Umsetzungsprozess wird langwierig und schwierig

Die systematische Überwachung der Umsetzung vor Ort – also in den einzelnen Staaten selbst – erfolgt ebenfalls durch Mechanismen, die sich von den bisherigen Menschenrechtskonventionen unterscheiden. Nach Artikel 33 des Übereinkommens wird auf nationaler Ebene eine Stelle eingerichtet, die für die Förderung, den Schutz und die Überwachung des Übereinkommens zuständig ist. In Deutschland wurde das regierungsunabhängige Deutsche Institut für Menschenrechte für diese Aufgaben mandatiert. Artikel 35 des Übereinkommens verpflichtet die Vertragsstaaten zudem, zwei Jahre nach der Ratifizierung einen Bericht über den Umsetzungsstand des Übereinkommens zu erstellen und an den Ausschuss nach Artikel 34 zu übermitteln. Gleichzeitig sollen ,hochrangige Stellen‘ in der Bundesregierung und in den Landesregierungen das jeweilige Regierungshandeln auf seine Vereinbarkeit mit der UN-Konvention prüfen. Insbesondere der institutionelle Mechanismus zur Berichterstattung könnte in Verbindung mit der Tätigkeit des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIM) dazu dienen, einen öffentlichen Diskurs herzustellen und zu erhalten. Das DIM äußert offen die Hoffnung, dass auf diesem Wege ein Austausch und eine Diskussion mit der Zivilgesellschaft zu schaffen ist. Im Vergleich zu den derzeit bestehenden losen innerstaatlichen Strukturen zur Umsetzung menschenrechtlicher Übereinkommen stellen die Umsetzungsregelungen in dieser Form ein Novum dar und stoßen daher auch bei den mit der Überwachung der Umsetzung mandatierten Akteuren auf großes Interesse.

Der politische bzw. zivilgesellschaftliche Druck für eine moderne, dem Geist der Konvention entsprechende Gesetzgebung muss insbesondere nach Inkrafttreten der Konvention hoch gehalten werden. Während die Bundesregierung in einer begleitenden Denkschrift keinen besonderen Änderungsbedarf an bestehenden Gesetzen sieht, stelle ich in zahlreichen Sach- und Rechtsgebieten die Notwendigkeit von Veränderungen in den gesetzlichen Normen und bei ihrer Anwendung fest. In diesem knappen Rahmen kann ich nur stichpunktartig einige Beispiele aufführen: Ich habe die Artikel 19 (Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft), 24 (Bildung) und 27 (Arbeit und Beschäftigung) ausgewählt, um die Kluft zwischen dem Anspruch der UN-Konvention und der bundesrepublikanischen Wirklichkeit zu verdeutlichen.

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Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft

Die in Artikel 19 formulierten Menschenrechte beschreiben Rechtsansprüche auf eine unabhängige Lebensführung, die jeder ,Nichtbehinderte‘ völlig selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen dürfte. Danach haben Menschen mit Behinderungen das Recht, den Aufenthaltsort zu wählen, sowie zu entscheiden wo und mit wem sie leben wollen. Das Recht auf volle Teilhabe und Mitwirkung in der Gemeinschaft materialisiert sich zusätzlich durch den Anspruch auf gleiche Wahlmöglichkeiten und vor allem den Zugang zu Unterstützungsleistungen, einschließlich persönlicher Assistenz. Nach Inkrafttreten der UN-Konvention stellen Fälle wie der des 32jährigen Matthias Grombach aus Sachsen-Anhalt, der seit 3 Jahren gegen seinen Willen dazu gezwungen wird, in einem Altersheim sein Dasein zu fristen, eine – wie ich finde: schwere – Menschenrechtsverletzung dar. Obwohl in § 9 Abs. 1 SGB IX das Wunsch- und Wahlrecht bei der Entscheidung über Leistungen und bei der Ausführung von Leistungen zur Teilhabe festgeschrieben ist, wird es von den Kostenträgern mit Hilfe einer konkurrierenden Norm, dem so genannten Mehrkostenvorbehalt (§ 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII) vielfach effektiv ausgehebelt. Im Ergebnis bestimmt der Sozialhilfeträger und nicht der Mensch mit Unterstützungsbedarf den Wohn- und Lebensort. Im Extremfall werden dann junge Menschen nicht einmal mehr in Wohnheime für Menschen mit Behinderungen gelassen, sondern sogar in Pflegeheime gedrängt. Wie hartnäckig sich Menschenrechte verletzende Strukturen halten oder sogar reproduzieren, zeigt die beinahe unglaublich anmutende Politik des Berliner Senats in der 16. Wahlperiode (2006-2010). In Berlin werden sogar neue Pflegeheimplätze für Menschen ab 18 Jahren aufgebaut – übrigens ohne dass es einen Aufschrei der Empörung von Seiten der Liga der freien Wohlfahrtspflege gegeben hat! Nur die Eltern der potentiell betroffenen jungen Menschen wehren sich gegen den Neubau von Pflegeheimplätzen, die – einmal eingerichtet – neue nichtstationäre Versorgungsformen blockieren dürften.

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Bildung

Die neue UN-Konvention ist von erfrischender Eindeutigkeit, was die Rechte von Menschen mit Behinderungen auf Bildung anbelangt. So heißt es schnörkellos: Die Vertragsstaaten gewährleisten ein inklusives Bildungssystem. Des Weiteren wird festgelegt, dass aufgrund der Behinderung niemand vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden darf und dass Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung erfahren sollen. Letztlich ist Menschen mit Behinderungen ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit anderen der Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung, Berufsausbildung, Erwachsenenbildung und lebenslangem Lernen zu ermöglichen.

Spätestens seit dem Bericht des UN-Sonderberichterstatters Vernon Muňoz aus dem Jahr 2007 und der darauf folgenden Debatte ist klar gewesen, dass die maßgeblichen Akteure im deutschen Bildungssystem – mit den Kultusministern und Kultusministerinnen der Länder an der Spitze – das deutsche Sonderschulsystem sowie die Ideologie und Praxis der Aussonderung mit allen Mitteln verteidigen würden. Die Tatsache, dass die amtliche deutsche Übersetzung eine schwerwiegende Textfälschung enthält, indem der eminent bedeutende Terminus ,inclusion‘ durch ,Integration‘ ersetzt wurde, ist dem Wirken einiger Bundesländer zuzuschreiben, die sich ansonsten der Ratifizierung verweigert hätten. So kann es nicht verwundern, dass erste Landesregierungen (wie etwa die hessische) erklären, sie seien nicht an die Konvention gebunden, weil ja die Bundesregierung Vertragspartner sei oder die Ausflucht suchen, diese UN-Konvention habe für sie keine unmittelbare Rechtswirkung. Während in Portugal, Großbritannien oder Schweden rund 90 Prozent der Kinder mit Behinderungen in einer Regelschule unterrichtet werden und Norwegen sowie Italien ihre Sonderschulen sogar ganz abgeschafft haben, halten fast alle deutschen Schulministerinnen und Schulminister wider alle wissenschaftliche pädagogische Erkenntnis mehr oder weniger starr am benachteiligenden Sonderschulsystem fest. Dank dieser UN-Konvention können solche Politiken in Zukunft als das bezeichnet werden, was sie sind: Menschrechtsverletzungen.

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Arbeit und Beschäftigung

In Artikel 27 ist das gleichberechtigte Recht auf Arbeit von Menschen mit Behinderungen festgeschrieben. Es umfasst vor allem das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt und angenommen wurde. Auch auf dem Gebiet der Erwerbsarbeit hat die UN-Konvention das Potential mit dem Inklusionsbegriff und der Anerkennung des ,Soseins‘ weit über den Kreis der Menschen mit Behinderungen hinaus zu wirken. In letzter Konsequenz ergibt sich aus dem Ziel der Inklusion die Forderung, dass die Arbeitswelt sich dem Menschen anpassen muss und sich nicht die Menschen den – ebenfalls sozial konstruierten – Zwängen der Arbeitswelt unterordnen müssen.

Weitab von solchen utopisch scheinenden Überlegungen ist die heutige Situation für Menschen mit Behinderung am Arbeitsmarkt äußerst unbefriedigend. Personenbezogene Förderung wird nur selten realisiert und der Mangel an Arbeitsplätzen für Menschen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist eklatant. Allerdings ist anders als im Bereich der Schulbildung die politische Ablehnung gegenüber neuen Unterstützungsformen nicht so ausgeprägt. Gleichwohl befinden wir uns auch auf dem Politikfeld ,Beschäftigung‘ in einer Übergangsphase. Es ist noch nicht ausgemacht, ob das Leitbild der Inklusion zur Schaffung eines dauerhaften Netzwerkes der Befähigung, der Teilhabe, des Nachteilsausgleichs und der Unterstützung führt oder ob wegen unzulänglicher Förderung das Recht, seinen Arbeitsplatz frei zu wählen, ins Leere läuft. Solange häufig faktisch nur die Wahl zwischen Werkstatt für Menschen mit Behinderungen oder Arbeitslosigkeit bleibt, bleibt der Artikel 27 jedenfalls unerfüllt.

Abschließend möchte ich festhalten: Aus meiner Sicht ist einer der Vorteile der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen, dass sie sich – eben weil sie ein Menschenrechtsdokument darstellt – gut zum offensiven politischen Umgang eignet. Als ,soft law‘ ist Völkerrecht schließlich nur bedingt einklagbar. Insbesondere Verträge wie UN-Konventionen wirken nur dann, wenn sie Regime stiften, d.h. wenn sich völkerrechtliche Normen, verabredete Regeln, Verfahren und Verhaltensweisen zu einem Regelsystem verdichten, dem sich ein Unterzeichnerstaat nur durch erheblichen Gesichts- und Legitimationsverlust entziehen kann. Insofern reicht es nicht aus, immer wieder darauf hinzuweisen, dass sich die Bundesrepublik Deutschland den Regel der UN-Konvention über die Menschenrechte der Menschen mit Behinderung freiwillig unterworfen hat – übrigens mit einstimmigen Beschlüssen in Bundestag und Bundesrat. Zur Regimebildung gehört auch die fortwährende öffentliche Auseinandersetzung über die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit mittels der aktiven Einmischung der Zivilgesellschaft. Ich fürchte nur so lassen sich Parlamentarierinnen und Parlamentarier darauf verpflichten, für die Ermöglichung der Inklusion als Menschenrecht die gesetzlichen Grundlagen zu schaffen.

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Die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen

Sigrid Graumann

Im Dezember 2006 wurde die neue UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention) von den Vereinten Nationen verabschiedet.

Bereits im März 2007 wurde sie von Deutschland unterzeichnet und im Dezember 2008 schließlich ratifiziert. Nach der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde ist sie für Deutschland im März verbindlich geworden.

Dieser Ratifizierung ging ein mehrjähriger Prozess voran, in dem sich die Vereinten Nationen mit dem Thema Behinderung beschäftigten (vgl. Degener 2006; Weiß 2006).

Damit markiert die Unterzeichnung ein Ende – aber gleichzeitig auch den Anfang eines weitreichenden neuen politischen Prozesses: Die Umsetzung der Konvention ist eine gesamtgesellschaftliche Zukunftsaufgabe.

Die Konvention stellt für die Behindertenpolitik eine große Herausforderung dar. Sie fordert einen Paradigmenwechsel von einer Politik der Fürsorge zu einer Politik der Menschenrechte (Degener 2006). Sie befreit behinderte Menschen von ihrer „gesellschaftlichen Unsichtbarkeit" (OHCHR). Sie steht in der Tradition anderer ,Gruppenkonventionen‘ wie der Frauen- und der Kinderrechtskonvention. Wie diese enthält sie keine ,Sonderrechte‘ für behinderte Menschen; sie konkretisiert und präzisiert lediglich den allgemeinen Menschenrechtsschutz für die besonderen Gefährdungen, denen behinderte Menschen ausgesetzt sind (Schmahl 2007). Genau darin liegt das große Innovationspotenzial der Konvention (Bielefeldt 2006).

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Teilhabe und Autonomie

Die Leitprinzipien der Konvention sind die volle gesellschaftliche Teilhabe (inclusion) verbunden mit der Achtung der Autonomie und der sozialen Wertschätzung behinderter Menschen. Menschen, die intensivere Unterstützung benötigen, werden explizit einbezogen. Damit verbunden ist eine bemerkenswerte Verknüpfung von Freiheitsrechten als Abwehrrechte gegen staatliche und andere Eingriffe in die persönliche Freiheit mit sozialen Rechten als Anspruchsrechte auf soziale Dienste und Leistungen.

So umfasst z.B. das Recht auf gleiche Anerkennung als rechtsfähige Person nicht nur den Schutz vor Willkür und Ungleichbehandlung vor dem Gesetz, sondern auch die notwendige Unterstützung und Assistenz, die behinderte Menschen brauchen, um ihre Rechte auch wirklich ausüben zu können (Art. 12; Art. 13). Denn letzteres ist nur möglich, wenn beide Rechtsansprüche verbunden werden. Einbezogen sind dabei auch alle, die nach deutschem Recht bisher als nicht geschäftsfähig gelten. Für die Umsetzung hat dies weitreichende Folgen: Das bestehende Konzept der rechtlichen Vertretung im deutschen Recht müsste ersetzt werden durch ein Konzept rechtlicher Assistenz und Unterstützung, das institutionell und finanziell abgesichert ist (Lachwitz 2007; Krause-Trapp 2007). Außerdem dürfte eine Zwangsbehandlung und -unterbringung bei einer psychischen Störung nur als ultimo ratio richterlich angeordnet werden, wenn eine Selbst- oder Fremdgefährdung nicht anders abgewandt werden kann und wirklich alle freiwilligen Hilfs- und Unterstützungsmöglichen ausgeschöpft worden sind (Kaleck u.a. 2007).

Für Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und gleichberechtigte Teilhabe ist das Recht auf einen „angemessenen Lebensstandard“ (Art. 28) wesentlich, das damit deutlich über das ,soziokulturelle Minimum‘ im deutschen Sozialrecht hinausgeht. Ferner gehört dazu die Verpflichtung zur Beseitigung von allen Barrieren, die den gleichberechtigten Zugang „zur physischen Umgebung, zu Transportmitteln, Information und Kommunikation“ (Art. 9) behindern.

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Stigmatisierung und Diskriminierung

Definitionen von Behinderung sind meist stigmatisierend. Die Konvention verzichtet auf eine abschließende Definition und betont, dass sich der Begriff Behinderung ständig weiterentwickelt. Ihr liegt damit das soziale Modell zu Grunde, welches Behinderung auf gesellschaftliche Barrieren und fehlende Unterstützung zurückführt. Es ersetzt das medizinische Modell, das sich wie die deutsche sozialrechtliche Definition auf individuelle Funktionsbeeinträchtigungen stützt. Als behinderte Menschen im Sinne der Konvention gelten daher alle, die auf Grund von Wechselwirkungen zwischen individuellen Schädigungen und ,verschiedenen Barrieren‘ an der vollen gesellschaftlichen Teilhabe gehindert werden (Art. 1). Der ,Defizit-Ansatz‘ im Verständnis von Behinderung wird damit konsequent durch einen ,Diversity-Ansatz‘ ersetzt: Während die individuelle Besonderheit jedes Menschen Wertschätzung verdient, sind die sozialen Bedingungen als das eigentliche Problem anzusehen.

Bemerkenswert ist außerdem der gesellschaftliche Bewusstseinswandel (awareness raising), den die Konvention fordert: Die Unterzeichnerstaaten werden zur Förderung des Bewusstseins für die Rechte und Würde behinderter Menschen und für ihre soziale Wertschätzung (Art. 8) im Sinne der Konvention verpflichtet. Außerdem sehen Einzelregelungen Schulungen zur Sensibilisierung von im Bildungs-, Justiz- oder Gesundheitswesen tätigen Personen vor.

Aufmerksamkeit verdient auch, dass sich der Begriff ,Diskriminierung‘ nicht auf die Vorenthaltung formal gleicher Rechte beschränkt, sondern Diskriminierung durch Vorurteile, Barrieren und fehlende Unterstützung explizit einbezieht (Art. 2). Ein besonderer Akzent wird auf die Gefährdungen von behinderten Frauen (Art. 6) und behinderten Kindern (Art. 7) durch Mehrfachdiskriminierung gesetzt.

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Bildung, Arbeit und Wohnen

Sondereinrichtungen für behinderte Menschen können mit einer Gefährdung der Achtung der Menschenrechte verbunden sein. Die Unterzeichnerstaaten werden verpflichtet, gesetzliche und institutionelle Voraussetzungen zu schaffen, um solche Rechtsverletzungen wirkungsvoll zu verhindern. Dazu gehören die Achtung der Privatsphäre (Art. 22) und der Schutz vor Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch (Art. 16) in allen Wohn-, Arbeits-, Bildungs-, Therapie- und Rehabilitationseinrichtungen.

Festgelegt wurden in der Konvention Wahlrechte in Bezug auf die Schulform für behinderte Schüler (Art. 24) sowie für Wohnform und Wohnort für behinderte Menschen (Art. 19). Landesschulgesetze, die einseitig auf Sonderschulen bauen, und Kostenvorbehaltsregelungen, die behinderte Menschen gegen ihren Willen in Heime zwingen, müssten so verändert werden, dass eine volle Ausübung dieser Wahlrechte gewährleistet ist.

Die Konvention enthält das ,Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen‘, verbunden mit Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechten, einem umfassenden Diskriminierungsverbot durch Arbeitgeber sowie die Verpflichtung, einen offenen und integrativen Arbeitsmarkt zu schaffen (Art. 27). Damit müsste die Integration in den ersten Arbeitsmarkt zukünftig konsequent Vorrang vor der Beschäftigung in Werkstätten für behinderte Menschen haben.

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Medizin und Forschung

Das soziale Modell von Behinderung ist auch eine Antwort auf das Diskriminierungspotenzial im Kontext der Medizin. Nach der Konvention haben behinderte Menschen ein Recht ,auf das für sie erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit‘ und sind dabei vor jeder diskriminierenden Ungleichbehandlung und Fremdbestimmung zu schützen (Art. 25).

Die Konvention enthält ausdrücklich das Verbot nichteigennütziger medizinischer und wissenschaftlicher Versuche ohne eigene freiwillige Einwilligung (Art. 15). Solche Versuche mit ,nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen‘ sind im deutschen Arzneimittelrecht ausdrücklich verboten, außerhalb dessen aber gesetzlich ungeregelt. Sie finden in der Praxis in einem rechtlichen Graubereich statt, wenn z.B. nach genetischen Ursachen von geistigen Behinderungen und Demenzerkrankungen geforscht wird.

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Das innovative Potenzial der Konvention

Die Konvention ist durch die Unteilbarkeit und Gleichrangigkeit insbesondere der Freiheitsrechte und der sozialen Menschenrechte geprägt (Lob-Hüdepohl 2007). Allerdings sind diese Grundsätze umstritten (Lohmann u.a. 2005). Oft wird eingewandt, soziale Rechte seien unbestimmt und könnten Freiheitsrechte verletzen. Deshalb käme ihnen nur ein nachgeordneter Status zu (vgl. Habermas 1998). Freiheitsrechte sind für behinderte Menschen aber wertlos, wenn ihnen Barrieren Zugänge verwehren und ihnen die materielle Grundlage für ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben fehlt (vgl. Tugendhat 1996; Gosepath 1998). Behinderte Menschen haben außerdem die Erfahrung machen müssen, dass soziale Leistungen unter dem Diktum der Fürsorge an Bevormundung und Fremdbestimmung gekoppelt sind (Graumann 2006). Die Unteilbarkeit und Gleichrangigkeit der Menschenrechte besitzt für sie deshalb besondere Relevanz. Damit und vor allem mit der Akzentuierung gesellschaftlicher Teilhabe bei strikter Achtung individueller Autonomie fordert die Konvention das vorherrschende Verständnis von sozialstaatlichen Solidarpflichten heraus (vgl. Kersting 2000).

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Literaturverzeichnis

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Degener, Theresia (2006): Menschenrechtsschutz für behinderte Menschen. Vereinte Nationen 3/2006, S. 104-110.

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Graumann, Sigrid (2006): Sind wir dazu verpflichtet, für das Wohlergehen anderer zu sorgen? Eine Kritik traditioneller Ethikkonzeptionen und ein Plädoyer für eine ,Care-Ethik‘, die verbindliche Verpflichtungen ausweist. Sonderpädagogische Förderung 51, 1, S. 5-22.

Habermas, Jürgen (1998): Der interkulturelle Diskurs über Menschenrechte. In: Brunkhorst, Hauke/Köhler, Wolfgang R./Lutz-Bachmann, Matthias (Hg.): Recht auf Menschenrechte. Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik. Suhrkamp, Frankfurt a.M., S. 216-227.

Kaleck, Wolfgang/Hilbrans, Sönke/Scharmer, Sebastian (2007): Ratifikation der UN Disability Convention vom 30.03.2007 und Auswirkung auf die Gesetze für sogenannte psychisch Kranke am Beispiel der Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung nach dem PsychKG Berlin. Gutachterliche Stellungnahme im Auftrag der Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener e.V., Berlin.

Kersting, Wolfgang (2000): Politische Solidarität statt Verteilungsgerechtigkeit? Eine Kritik egalitaristischer Sozialstaatsbegründung. In: Kersting, Wolfgang (Hg.): Politische Philosophie des Sozialstaats. Velbrück Wissenschaft, Weilerswist, S. 202-256.

König, Matthias (2005): Menschenrechte. Campus, Frankfurt a.M.

Krause-Trapp, Ina (2007): Zum Recht behinderter Menschen auf Selbstbestimmung und Teilhabe. PUNKT UND KREIS Michaeli/2007, S. 18-21.

Lachwitz, Klaus (2007): UNO-Generalversammlung verabschiedet Konvention zum Schutz der Rechte behinderter Menschen. Teil I: Rechtsdienst der Lebenshilfe 1/07, S. 37-42; Teil II: Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/07, S. 37-40.

Lob-Hüdepohl, Andreas (2007): Welche Pflichten hat die Gesellschaft gegenüber Menschen mit schweren Behinderungen und ihren Familien? In: Dederich, Markus/Grüber, Katrin (Hg.): Herausforderungen. Mit schwerer Behinderung leben. Mabuse, Frankfurt a.M., S. 87-101.

Lohmann, Georg/Gosepath, Stefan/Pollmann, Arnd/Mahler, Claudia/Weiß, Norman (2005): Die Menschenrechte: unteilbar und gleichgewichtig? Studien zu Grund- und Menschenrechten 11, Menschenrechtszentrum Potsdam.

Menke, Christoph/Pollmann, Arnd (2007): Philosophie der Menschenrechte. Junius, Hamburg.

OHCHR (Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights) (2002): Human Rights and Disability. The Current Use and Future Potential of United Nations Human Rights Instruments in the Context of Disability. Unter: www.ohchr.org/Documents/Publications/HRDisabilityen.pdf, gesehen am 30.09.09

Schmahl, Stefanie (2007): Menschen mit Behinderungen im Spiegel des internationalen Menschenrechtsschutzes. Archiv des Völkerrechts 45, S. 517-540.

Tugendhat, Ernst (1995): Vorlesungen über Ethik. Suhrkamp, Frankfurt a. M., S. 236-363.

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Menschen mit Behinderungen im Spannungsfeld von Exklusion und Inklusion

Vorüberlegungen zu einer notwendigen Erweiterung der Sozialgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert

Hans-Walter Schmuhl

Im Folgenden möchte ich, in einem ersten Schritt, Vorüberlegungen zu einer Sozialgeschichte der Behinderung in Deutschland im 20. Jahrhundert entwickeln, um dann, in einem zweiten Schritt, mit grobem Strich Grundzüge einer solchen Geschichte zu skizzieren – denn eine solche Geschichte steht, soweit ich den Forschungsstand überblicke, noch aus.1

I. Die klassische Sozialgeschichte – als Geschichte sozialer Strukturen, Prozesse, Handlungen und Bedeutungen – hat Menschen mit Behinderungen schlichtweg übersehen, bei dem Versuch, die allgemeine Geschichte in sozialhistorischer Perspektive zur Gesellschaftsgeschichte fortzuschreiben, kommen sie nicht vor.2 Nun steht die Sozialgeschichte seit den 1980er Jahren vor den Herausforderungen der Frauen- und Geschlechtergeschichte, der Alltags- und Mentalitätsgeschichte, der neueren Kulturgeschichte und hat infolgedessen als ,Sozialgeschichte in der Erweiterung‘ Ansätze aus diesen Disziplinen längst in ihr Forschungsdesign integriert. Insofern könnte man fragen, inwieweit es noch sinnvoll ist, eine Sozialgeschichte der Behinderung schreiben zu wollen, wenn der Zeittrend doch längst auf eine Kulturgeschichte der Behinderung verweist. Nun ergibt sich aber bei einem Blick auf die Forschungen, die sich mit der Situation behinderter Menschen in historischer Perspektive befassen, der paradoxe Befund, dass hier Anregungen aus der Kulturwissenschaft und der Historischen Anthropologie, aus der Kunst- und Literaturgeschichte – übrigens mit großem Erkenntnisgewinn – längst aufgegriffen worden sind,3 während die Fragestellungen, Konzepte und Methoden der Historischen Sozialwissenschaft kaum einen Niederschlag gefunden haben. Ganz allgemein kann man in der Geschichtswissenschaft beobachten, dass die scharfe Frontstellung zwischen Sozial- und Kulturgeschichte nach dem cultural turn mehr und mehr einer multiperspektivischen Betrachtungsweise weicht. Eine Sozialgeschichte ohne kulturgeschichtliche Erweiterung läuft Gefahr, vor lauter anonymen Strukturen und Prozessen die handelnden Menschen und das, was sie antreibt – ihre Werthaltungen, Denkmuster, Gefühle, auch ihren ,Eigensinn‘ – aus den Augen zu verlieren. Einer Kulturgeschichte ohne sozialgeschichtlichen Unterbau wiederum droht die Gesellschaft und das, was sie zusammenhält – Herrschaft, Wirtschaft, soziale Formationen und Organisationen – aus dem Blick zu geraten.4 Daher zielt mein Plädoyer darauf, der Geschichte der Behinderung einen sozialhistorischen Sockel zu geben, d.h. die soziale Lage von Menschen mit Behinderungen und den ihr zugrunde liegenden wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Bedingungen systematisch zu erforschen und diese Sozialgeschichte dann mit einer Kulturgeschichte der Behinderung zu verknüpfen.

Bevor ich mich der Frage der konzeptionellen Grundlegung zuwende, möchte ich kurz auf den Begriff ,Menschen mit Behinderung‘ eingehen. Die 2001 von der WHO verabschiedete International Classification of Functioning, Disabilty and Health (ICF) unterscheidet drei Ebenen, indem sie von ,Schädigungen‘ (impairments), ,Aktivitätsbeeinträchtigungen‘ (activity limitations) und ,Partizipationseinschränkungen‘ (participation restrictions) spricht. Diese Auffächerung des Behinderungsbegriffs hat den Vorteil, die Dimensionen des Körpers, der individuellen Lebensführung und der gesellschaftlichen Zuteilung von Lebenschancen sauber auseinander zu halten. Wenngleich die ICF die in älteren Definitionen von Behinderung angelegte, sich aus einer medizinischen Betrachtungsweise ergebende Defizitorientierung – also die Beschreibung von Menschen mit Behinderungen als ,Mängelwesen‘ – letztlich nicht zu überwinden vermag,5 eignet sie sich als begriffliche Grundlage für eine geschichtswissenschaftliche Analyse recht gut. Sie hilft, nicht in die ,ontologische Falle‘ zu tappen, Behinderung also nicht etwa als ein a priori Gegebenes zu verstehen, das im Körper oder Wesen verankert ist, sondern als soziales Konstrukt. Nicht etwa ein ,behindert sein‘ ist Gegenstand der Historischen Sozialwissenschaft, sondern das ,behindert werden‘, der Prozess der sozialen Attribution und deren soziale Auswirkungen. ,Menschen mit Behinderungen‘ ist ein analytischer Begriff, den wir rückblickend auf die Geschichte anwenden. In den Quellen finden sich andere Begriffe – ,Behinderter‘, ,Krüppel‘, ,Schwachsinniger‘ usw. – und sie umreißen den jeweils gemeinten Kreis von Menschen anders als unser aktuelles Konzept ,Menschen mit Behinderungen‘. Der Wandel der Begrifflichkeiten ist jedoch kein ärgerlicher Störfaktor, sondern im Gegenteil: ein wichtiges Element einer Sozialgeschichte der Behinderung, spiegelt er doch auf der sprachlichen Ebene Strategien und Praktiken der Ausgrenzung, Abgrenzung und Eingrenzung wider, die für eine Sozialgeschichte der Behinderung zentral sind.6

Das Leben behinderter Menschen bewegt sich im Spannungsfeld von sozialer Exklusion und Inklusion. Diese beiden Begriffe, die aus der englischsprachigen Literatur zum Thema disability Eingang in die deutsche Sprache gefunden haben, sind – das sei besonders hervorgehoben – vom Ansatz her normative Begriffe. Das Wort ,Inklusion‘ steht für eine soziale Leitidee. Ziel ist die Schaffung einer Gesellschaft, in der jeder Mensch, ob behindert oder nicht behindert, in seiner Individualität akzeptiert wird und die Möglichkeit hat, uneingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. ,Exklusion‘ stellt das Gegenbild dieser Zielutopie dar, sie steht für Ausgrenzung und Verweigerung gesellschaftlicher Teilhabe gegenüber allen Menschen, die von der herrschenden Norm abweichen. In der heilpädagogischen Literatur wird z.B. ein fünfstufiges Modell entworfen, das von der Exklusion über die Segregation, Integration und Inklusion bis zur ,Vielfalt als Normalfall‘ reicht.7 Von ihrem erkenntnisleitenden Interesse her ist eine Sozialgeschichte der Behinderung, wie sie mir vorschwebt, durchaus der Zielutopie der Inklusion verpflichtet – sie will die Bedingungen der Möglichkeit ausloten, soziale Inklusion herzustellen, auch indem sie Ursachen sozialer Exklusion herausarbeitet. Insofern bekennt sie sich zum normativen Gehalt des Begriffs ,Inklusion‘. Vorsicht ist allerdings geboten, wenn ,Inklusion‘ und ,Exklusion‘ als analytische Begriffe zur Beschreibung und Deutung sozialer Strukturen und Prozesse benutzt werden. Hier lauert ein ,teleologisches Missverständnis‘ in dem Sinne, dass man durch Stufenmodelle von der Exklusion zur Inklusion zu der Annahme verführt werden kann, es gebe einen der Geschichte inhärenten Fortschritt in Richtung Inklusion. Auch wenn unsere Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Leitidee der Inklusion insgesamt näher gekommen ist – eine gleichsam natürliche Vorwärts- und Aufwärtsentwicklung gibt es nicht, das soziale Geschehen bewegt sich zwischen den Polen Inklusion und Exklusion, Phasen des Fortschritts zur Inklusion wechseln mit Phasen des Stillstands oder gar des Rückschritts, die Entwicklung in den verschiedenen gesellschaftlichen Subsystemen verläuft keineswegs gleichförmig, vielmehr ist die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen die Regel.

Wenden wir uns der Frage nach der Operationalisierung zu. Wie kann man den in einer Gesellschaft erreichten Grad an Inklusion behinderter Menschen erfassen? Mein Vorschlag geht dahin, den Zugang behinderter Menschen zu sozialen Ressourcen zu untersuchen. Soziale Ressourcen – das sind im weitesten Sinn Güter und Kapitalien, die für die Verteilung von Lebenschancen in einer Gesellschaft bedeutsam sind. Es geht also um den Zugang behinderter Menschen

Wodurch können nun Menschen am Zugang zu sozialen Ressourcen behindert werden? Hier scheint es mir hilfreich, zu analytischen Zwecken drei Dimensionen ins Auge zu fassen. Die erste dieser Dimensionen möchte ich mit dem Begriffspaar Immobilität/Mobilität umschreiben: Mobilität meint hierbei im weitesten Sinne Bewegung, Beweglichkeit, Bewegungsfreiheit als Voraussetzung der Teilhabe an sozialen Ressourcen, durchaus auch Bewegungsfreiheit im Raum. Die Mobilität von Menschen mit Behinderungen im Raum ist, wie wir heute mit sensibilisiertem Blick erkennen, durch eine Vielzahl von Barrieren eingeschränkt, und Barrierefreiheit ist zu einem Leitmotiv des Umgangs mit Menschen mit Behinderungen geworden. Man muss sich aber vergegenwärtigen, dass dies, historisch betrachtet, ein neuer Gedanke ist. Dazu nur ein Streiflicht: In einem Gedenkblatt für Pastor Franz Arndt, den Gründer der Volmarsteiner ,Krüppelanstalten‘ heißt es 1917: „Manche mögen sich darüber wundern, dass ausgerechnet ein Krüppelheim in gebirgiger Gegend errichtet wurde, aber Vater Arndt konnte dann überzeugend sagen: ‚Die Krüppel können selber nicht die Schönheiten der Natur durchwandern, so sollen sie sie immer vor Augen haben.’“11 Wie Kerstin Stockhecke im Rahmen der Ausstellung ,Die Entdeckung der Beweglichkeit‘ dokumentiert hat, spielt Mobilität erst seit den 1950er Jahren bei der Bauplanung von Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen eine größere Rolle, und auch in der Entwicklung von Rollstühlen kommt, wie Rolf Westheider zeigt, der zunehmende Anspruch von Menschen mit Behinderungen auf Mobilität zum Ausdruck.12 Die Einschränkung räumlicher Mobilität spiegelt immer auch rechtliche, politische und soziale Restriktionen wider – der Bordstein zum ,Bürgersteig‘ trennte, zugespitzt formuliert, den körperbehinderten Menschen lange Zeit vom Bürger.

Die zweite Dimension, die eine Sozialgeschichte der Behinderung zu untersuchen hat, ist die einer Gesellschaft eigene Definition von Verteilungsgerechtigkeit, die zwischen den Polen Leistungsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit und Bedarfsgerechtigkeit angesiedelt ist. Hier geht es, bezogen auf das 20. Jahrhundert, darum, welcher Anteil an sozialen Ressourcen Menschen mit Behinderung in einer am Leistungsprinzip orientierten modernen Industriegesellschaft zugebilligt wird und wie dies gesellschaftlich begründet und gerechtfertigt wird. Hierhin gehört etwa die Frage, ob und inwieweit die Verteilung sozialer Ressourcen an Menschen mit Behinderungen nach dem Kausal- oder dem Finalprinzip erfolgt.

Die dritte Dimension, auf die ich abheben möchte, lässt sich in dem Begriffspaar Heteronomie/Autonomie fassen. Zu untersuchen ist der jeweilige Grad der Fremd- bzw. Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen in gesellschaftlichen Verteilungskämpfen. Diese Dimension ist mir wichtig, weil hier Menschen mit Behinderungen als historische Akteure sichtbar werden. Sie sind ja nicht nur passive Objekte bevormundender Fürsorge, Ausgrenzung oder gar Vernichtung, sondern auch handelnde Subjekte, die in ihrem ,Eigensinn‘ Strukturen unterlaufen oder aber durch organisierte Interessenartikulation aktiv Einfluss auf diese Strukturen nehmen können. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass Menschen mit Behinderungen keine in sich geschlossene soziale Gruppe darstellen, dass vielmehr einzelne Teilgruppen unabhängig voneinander, manchmal auch gegeneinander – in Interaktion mit anderen historischen Akteuren wie dem Staat, den Parteien, den Wohlfahrtsverbänden, den in der Behindertenhilfe tätigen Professionen usw. – agieren.

Aus dem hier nur grob umrissenen Forschungsdesign lässt sich eine große Zahl konkreter Fragestellungen entwickeln, von denen viele auf dem gegenwärtigen Kenntnisstand noch nicht oder doch nicht hinreichend beantwortet werden können. Im Folgenden beschränke ich mich daher darauf, einige wenige Grundlinien einer Sozialgeschichte der Behinderung in Deutschland im 20. Jahrhundert anzureißen.

II. Hatten Menschen mit Behinderungen – als ,Krüppel‘, ,Blinde‘, ,Taubstumme‘, ,Blöde‘, ,Epileptiker‘ usw. – bis weit in das 19. Jahrhundert hinein an den Rändern der vormodernen Gesellschaft ihr Dasein gefristet, zwar oft mehr schlecht als recht lebend, aber durchaus noch in die Beziehungsgeflechte der Familie, der Nachbarschaft, des Dorfes oder Stadtviertels eingebunden, so wurde ihre Situation in dieser Hinsicht im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unter den Vorzeichen der voll entfalteten modernen Industriegesellschaft zusehends prekärer: Die Durchsetzung der Lohnarbeit (auch für Frauen), die Normierung der Arbeitsvorgänge in der industriellen Arbeitswelt, die strikte Trennung von Arbeits- und Freizeit, das Auseinanderfallen von Wohnort und Arbeitsstätte, die enorme räumliche Mobilität, die rasante Verstädterung – das alles trug zur beschleunigten Auflösung der sozialen Netzwerke und Mikromilieus bei, die bis dahin Menschen mit körperlichen Schädigungen aufgefangen hatten. Moderne Arbeiterfamilien waren – anders als traditionale Handwerker- oder Bauernfamilien – nicht mehr in der Lage, Familienangehörige mit Behinderungen zu Hause zu versorgen.13 In dem Maße, wie sich die traditionellen sozialen Netzwerke aufzulösen begannen, entdeckte der im Entstehen begriffene moderne Interventionsstaat, entdeckten zunächst die Städte und Gemeinden, dann die Länder und Provinzen, schließlich auch der Nationalstaat die Fürsorge für Menschen mit Behinderungen – und das hieß konkret: die geschlossene Anstaltsfürsorge – als öffentliche Aufgabe. Nicht, dass der Staat die verschiedenen Hilfefelder in diesem Bereich unmittelbar an sich gezogen hätte – dazu wäre er gar nicht in der Lage gewesen, und es hätte auch dem Subsidiaritätsgedanken widersprochen, der der Selbstverwaltung in den Städten und Gemeinden zugrunde lag. In Deutschland baute sich der moderne Interventionsstaat von unten nach oben auf, und dabei bediente er sich der freigemeinnützigen konfessionellen Träger, die sich im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts auf diesem Feld etabliert hatten. Diese nahmen sich vorzugsweise solcher Menschen an, um die sich sonst niemand kümmern mochte, darunter auch Menschen mit schweren geistigen Behinderungen, Epilepsie und schweren psychischen Erkrankungen. Zwar waren nach dem preußischen Gesetz über den Unterstützungswohnsitz von 1871 die Landarmenverbände verpflichtet, die geschlossene Fürsorge für ,Geisteskranke‘, ,Schwachsinnige‘, ,Epileptische‘ und ,Blinde‘ sicherzustellen – doch beauftragten die Provinzialbehörden gerne die Einrichtungen der katholischen Caritas und der evangelischen Diakonie mit dieser wenig lohnend erscheinenden Aufgabe. Und: Menschen mit körperlichen Behinderungen hatte der Gesetzgeber schlichtweg übersehen. In diese Lücke stieß die Innere Mission, die innerhalb weniger Jahrzehnte eine evangelische ,Krüppelfürsorge‘ aufbaute.

Gerade die wilhelminische Zeit, also die Jahre zwischen 1890 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs, war die Hochzeit des Anstaltsbaus. Auf breiter Front wurden Menschen mit Behinderungen aus ihren überkommenen sozialen Bezügen gerissen und in die Parallelwelt der geschlossenen Anstalt verbracht. Das Anstaltswesen wurde zu großen Teilen nicht vom Staat getragen, sondern von freigemeinnützigen konfessionellen Trägern, die aber ab den 1890er Jahren zunehmend im Auftrag und unter der Aufsicht des Staates, in wachsendem Umfang auch vom Staat refinanziert, arbeiteten.14 In den Jahrzehnten um 1900 traten als weitere Akteure die medizinische Profession und ihre Standesvertretungen hinzu, die vehement das Primat des medizinischen Behandlungskonzepts im Umgang mit Menschen mit Behinderungen einforderten. Fachverbände der Psychiater und Neurologen verlangten in scharfen Polemiken, die konfessionellen Einrichtungen für geistig behinderte, epilepsiekranke und psychisch kranke Menschen ärztlicher Leitung zu unterstellen.15 Die Orthopäden, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts allmählich von der Chirurgie gelöst und als eigenständige medizinische Subdisziplin etabliert hatten, begannen, sich für die ,Krüppel‘ zu interessieren.. Nur sehr selten hatten die Orthopäden bis dahin das Wort ,Krüppel‘ benutzt, sie hüteten sich, ihre – zumeist wohlhabenden – Patienten mit diesem pejorativen Begriff zu belegen. Dies war insofern konsequent, als die Patienten, die sie in ihren Privatheilanstalten behandelten, den oberen sozialen Schichten entstammten und daher das Moment der ,sozialen Bedürftigkeit‘, das zum Bedeutungskern des Begriffs ,Krüppel‘ gehörte, auf sie nicht zutraf – ganz im Gegensatz zu den Patienten der von der evangelischen Diakonie betriebenen ,Krüppelheime‘. Mit der „Entdeckung des Krüppels“16 hatte sich die Innere Mission ein Arbeitsfeld erschlossen, das ihr vorerst niemand streitig machte. Erst 1903 ergriff der damals noch unbekannte Konrad Biesalski die Initiative, um der Orthopädie die Entwicklungsmöglichkeiten zu erschließen, die sich aus der Behandlung unbemittelter Menschen mit körperlichen Behinderungen eröffneten, und regte eine reichsweite ,Krüppelzählung‘ an, die schließlich 1906 stattfand. Diese Zählung markierte in der Sozialgeschichte von Menschen mit körperlichen Behinderungen in Deutschland eine deutliche Zäsur – übrigens auch in der Begriffsgeschichte, denn ausgehend von der ,Krüppelzählung‘ setzte sich der Begriff ,Krüppel‘, der von der Inneren Mission eingeführt und von Orthopäden zögernd aufgegriffen worden war, für ein halbes Jahrhundert als Leitbegriff der staatlichen Sozialpolitik und der freigemeinnützigen Wohlfahrtspflege durch.17

Für die sich konsolidierende medizinische Subdisziplin der Orthopädie war die ,Krüppelzählung‘ von 1906, bei der etwa 75.000 jugendliche ,Krüppel‘ in Deutschland registriert wurden, von denen etwa 42.000 als ,heimbedürftig‘ eingestuft wurden,18 von geradezu bahnbrechender Bedeutung, setzten sich doch die Orthopäden nun an die Spitze der ,Krüppelfürsorge‘. Erkauft wurde der damit verbundene Professionalisierungsschub jedoch mit der Übernahme einer Begrifflichkeit, der „das Odium der Asozialität“19 anhaftete. Nicht zufällig trat daher in Biesalskis Definition des ,Krüppels‘ im Laufe der Zeit die ökonomische Komponente immer deutlicher hervor. So schrieb er 1908, ein orthopädisch Kranker sei dann ein ,Krüppel‘, wenn „seine Erwerbsfähigkeit in einem Krüppelheim höher wird gesteigert werden können, als wenn er in seiner Umgebung“20 bliebe. Daraus leitete Biesalski die später immer wieder zitierte Maxime ab: „Der Krüppel soll aus einem Almosenempfänger zu einem Steuerzahler werden.“21 In dieselbe Richtung zielten auch die ,Krüppelpsychologie‘ und ,Krüppelpädagogik‘, die von Hans Würtz, seit 1915 Verwaltungsdirektor des ,Oskar-Helene-Heims‘, der neuen ,Musteranstalt‘ für körperlich behinderte Menschen in Berlin, entwickelt wurden.22 Der ökonomische Verwertungsaspekt wurde auch von der entstehenden Rassenhygiene in den Vordergrund gerückt. Ignaz Kaup, Ordinarius für Sozialhygiene an der Universität München, rechnete in seinem – auf ein Preisausschreiben zurückgehenden – Vortrag ,Was kosten die minderwertigen Elemente dem Staat und der Gesellschaft‘ im Jahre 1913 ,Krüppel‘ und ,Blöde‘ schon ganz selbstverständlich zu den ,Minderwertigen‘.23 Dies sollte in den 1920er Jahren, als sich die Eugenik/Rassenhygiene in Wissenschaft, Staat und Gesellschaft auf breiter Front durchsetzte, fatale Folgen haben.

Der Erste Weltkrieg markierte auch in der Geschichte der Menschen mit Behinderungen eine tiefe Zäsur. Schon bald nach Beginn des Krieges wurde offenbar, welch ungeheures Ausmaß an verstümmelten Körpern die modernen Kriegsmaschinerien produzierten. Es entstand eine Gruppe von Menschen mit Behinderungen, der, weil sie ihre körperliche Unversehrtheit im Dienst des Vaterlandes geopfert hatte, eine besondere soziale Dignität zugeschrieben wurde. Hatte man anfangs selbstverständlich von ,Kriegskrüppeln‘ gesprochen, so wurde diese Bezeichnung schon bald als anstößig empfunden. Stattdessen kamen, von der Militärführung gefördert, Bezeichnungen wie ,Kriegsinvalide‘, ,Kriegsversehrter‘ und vor allem ,Kriegsbeschädigter‘ auf.24

Der im Entstehen begriffene Weimarer Wohlfahrtsstaat nahm sich umgehend der sozialen Probleme der ,Kriegsbeschädigten‘ an. Am 9. Januar 1919 wurde die ,Verordnung über die Behandlung Schwerbeschädigter‘ erlassen, die, erstmals in der Geschichte der deutschen Sozialpolitik, eine gesetzliche Einstellungspflicht verfügte: Jeder Arbeitgeber hatte fortab ein Prozent seiner Arbeitsplätze ,Schwerbeschädigten‘ zur Verfügung zu stellen.25 Als ,schwerbeschädigt‘ galt jeder ,Kriegsbeschädigte‘, dessen Erwerbsfähigkeit um mindestens fünfzig Prozent gemindert war. Gleichgestellt waren Arbeits- und Unfallverletzte. Das „Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter“26 vom 6. April 1920 gilt als eines der wirkungsvollsten sozialpolitischen Gesetze der Weimarer Republik – bis 1930 brachte es, so die zeitgenössischen Schätzungen – etwa 100.000 der insgesamt 350.000 ,Schwerbeschädigten‘ in Arbeit.27

Die Schwerbeschädigtengesetzgebung brachte jedoch eine folgenschwere Unterscheidung mit sich: Aus Menschen, deren (körperliche) Behinderung auf eine Kriegs-, Arbeits- oder Unfallverletzung zurückzuführen war, wurden ,Schwerbeschädigte‘, alle anderen Menschen mit (körperlichen) Behinderungen blieben ,Krüppel‘. Dies wurde im „Preußischen Krüppelfürsorgegesetz“ vom 6. Mai 1920 festgeschrieben.28 Das Gesetz war insofern wegweisend, als es endlich einen Rechtsanspruch auf orthopädische Therapie und Rehabilitation einführte, es zementierte jedoch den sozialen Status der ,Krüppel‘ und brachte darüber hinaus eine folgenschwere Differenzierung in ,Vollwertige‘, ,Teilnutzbare‘ und ,Unwertige‘29 und staffelte auf dieser Grundlage die Leistungen der ,Krüppelfürsorge‘ nach der Schwere der Behinderung und dem Behandlungsaufwand. Dies entsprach den Vorstellungen von Sozialhygienikern, die vor einer „Verwendung teurer klinisch-therapeutischer Methoden“ bei „Siechen und Unheilbaren, Schwachsinnigen, Idioten und epileptischen Krüppeln“30 warnten. Hier zeichnete sich bereits eine ,Dreiklassengesellschaft‘ ab, die auf Jahrzehnte hinaus die soziale Lage von Menschen mit Behinderungen in Deutschland prägen sollte: die ,Oberschicht‘ der ,schwerbeschädigten‘ Kriegs-, Arbeits- und Unfallverletzten, die Masse der ,Krüppel‘, also der Menschen mit körperlichen Behinderungen, die nicht zu den privilegierten Gruppen gehörten, und schließlich die ,Unwertigen‘: Menschen mit körperlichen Behinderungen, die aufgrund ihres ,Siechtums‘ auch nicht teilweise in den allgemeinen Arbeitsmarkt integrierbar schienen, ferner Menschen mit Mehrfachbehinderungen sowie Menschen mit geistiger Behinderung oder Epilepsie.

Fortab waren alle körperlich geschädigten Menschen bestrebt, die diskriminierende Bezeichnung ,Krüppel‘ loszuwerden. Ein erster, am 10. April 1919 in Berlin gegründeter Zusammenschluss von Menschen mit körperlicher Behinderungen gab sich ganz bewusst den Namen ,Bund zur Förderung der Selbsthilfe der körperlich Behinderten‘ (nach seinem Begründer manchmal auch ,Otto Perl-Bund‘ genannt).31 Diese Selbsthilfeorganisation, die 1931 im ,Reichsbund der Körperbehinderten‘, aufging, versuchte, den Begriff ,körperlich Behinderter‘/,Körperbehinderter‘ durchzusetzen. Der Bund hatte eine emanzipatorische Stoßrichtung, er verfocht das Recht körperbehinderter Menschen auf Selbstbestimmung, Arbeit und Teilhabe an der Gesellschaft. Doch wohnte dem Anspruch auf soziale Inklusion, der sich auf die Produktivität körperbehinderter Menschen gründete, zugleich auch eine Exklusionstendenz inne, grenzte man sich doch schon auf der sprachlichen Ebene durch das Adjektiv ,körperlich‘ von den als ,minderwertig‘ stigmatisierten Menschen mit geistigen Behinderungen ab.32

Der neue Begriff ,körperlich Behinderter‘ konnte sich bis 1933 nicht auf breiter Front durchsetzen. Zwar waren mittlerweile sowohl die Profession der Orthopäden als auch die konfessionelle ,Krüppelfürsorge‘ mit dem Kampfbegriff ,Krüppel‘ nicht mehr recht glücklich, aber bis zum Ende der Weimarer Republik fand der Begriff ,körperliche Behinderung‘ keinen Eingang in die Gesetzessprache. Auf den ersten Blick mag es paradox erscheinen, dass ausgerechnet der nationalsozialistische Staat den Begriff des ,körperlich Behinderten‘ in die Gesetzgebung einführte, waren die braunen Machthaber doch mit dem Anspruch angetreten, eine ,differenzierte Fürsorge‘ durchsetzen zu wollen, die Lebenschancen nach rassenbiologischer Wertigkeit und sozialer Brauchbarkeit zuteilte. Allgemein wurde erwartet, dass der nationalsozialistische Staat die ,Krüppelfürsorge‘ ganz in den Bereich der konfessionellen Wohlfahrtspflege abschieben würde. Doch ließ die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) bereits 1934 Ambitionen erkennen, die Fürsorge für Menschen mit Körperbehinderungen an sich zu ziehen.

Aber auch die staatliche Gesundheitsführung entdeckte dieses Tätigkeitsfeld für sich. Im ,Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens‘ vom 3. Juli 1934 wurde den neu geschaffenen staatlichen Gesundheitsämtern u.a. auch die „Fürsorge für Tuberkulöse, für Geschlechtskranke, körperlich Behinderte, Sieche und Süchtige“33 übertragen.

In der Folge setzte sich der Begriff ,körperlich Behinderter‘ auf breiter Front durch, auch in der NSDAP und ihren Gliederungen und angeschlossenen Verbänden, z.B. bei der NSV, der Deutschen Arbeitsfront, der Hitlerjugend – die zeitweilig einen ,Bann K (Körperbehindert)‘ unterhielt – und dem Bund Deutscher Mädel. Das ,Reichsschulpflichtgesetz‘ aus dem Jahre 1938 regelte die „Schulpflicht geistig und körperlich behinderter Kinder“34 – das erste Mal, dass der Begriff ,geistig behindert‘ Eingang in die Gesetzessprache fand.

Im Hintergrund stand die rassenhygienisch motivierte Differenzierung zwischen ,erbgesunden, körperbehinderten Volksgenossen‘ und ,erbkranken, minderwertigen Krüppeln‘.35 Zusätzliche Schubkraft erhielt diese Differenzierung durch den seit Mitte der 1930er Jahre angespannten Arbeitsmarkt. Die rasch schrumpfende Reservearmee der immer noch Arbeitslosen wurde jetzt immer schärfer durchgemustert. Zum 30. November 1937 führte die ,Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung‘ eine Sondererhebung zur Gruppe der ,beschränkt einsatzfähigen Erwerbslosen‘ durch. Hierbei wurden die Gründe der beschränkten Arbeitseinsatzfähigkeit genau aufgeschlüsselt. Von den insgesamt 215.000 beschränkt einsatzfähigen Erwerbslosen fielen 54,2 % unter ,körperliche und geistige Behinderung, chronische Krankheit‘.36 Menschen mit körperlichen Behinderungen wurden nun als verborgene Arbeitsmarktreserve entdeckt, ihre berufliche Rehabilitation gefördert.

Der Reichsbund der Körperbehinderten, der im Mai 1933 durch das Hauptamt für Volkswohlfahrt bei der Reichsleitung der NSDAP zur einzigen offiziell anerkannten Vertretung von Menschen mit körperlichen Behinderungen im ,Dritten Reich‘ bestimmt und 1934 in die NSV eingegliedert wurde, trug dies Exklusionspolitik mit. 1935 stellte Otto Perl zufrieden fest, dass die Bezeichnung ,Körperbehinderter‘ „der Forderung nach einer auswählenden Fürsorge, die die geistig vollwertigen von den geistesschwachen und pervers veranlagten Gebrechlichen trennt“,37 Rechnung trage.

Die Bezeichnung ,Krüppel‘ wurde mehr und mehr zurückgedrängt, ihr Bedeutungsgehalt verschob sich immer weiter in Richtung des ,Krüppelsiechen‘. Zusammen mit den ,Schwachsinnigen‘, ,Blöden‘, ,Idioten‘, ,Imbezillen‘, ,Debilen‘, ,Epileptikern‘ und ,Irren‘ wurden die ,siechen‘ oder mehrfach körperlich und geistig behinderten Menschen den ,Ballastexistenzen‘ zugerechnet, deren Lebensrecht radikal in Frage gestellt wurde. Man kann den Nationalsozialismus mit guten Gründen als eine biopolitische Entwicklungsdiktatur auffassen, die die Kontrolle über Geburt und Tod, Sexualität und Fortpflanzung, Körper und Keimbahn, Variabilität und Evolution auf der Grundlage rationaler Planung anstrebte.38 In letzter Konsequenz stand hier tatsächlich die Zielutopie einer ,Gesellschaft ohne Behinderung‘ im Raum – genauer gesagt: Behinderte Menschen sollten in der neuen ,Volksgemeinschaft‘ nur dann und nur so lange geduldet werden, wie sie in den Arbeitsprozess eingebunden werden konnten und einen Beitrag zum Sozialprodukt leisteten. Schwere Behinderung, die Erwerbsarbeit unmöglich machte, sollte ,ausgemerzt‘ werden, erst – durch das Sterilisierungsprogramm – in der Generationenfolge, im Zuge der ,Euthanasie‘-Aktionen ab 1940, denen nach neuesten Schätzungen im Deutschen Reich und im besetzten Europa an die 300.000 Menschen zum Opfer fielen, durch Mord.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Eingliederung der Kriegsverletzten erneut zu einem ,sozialen Massenproblem‘.39 Nachdem von 1947 bis 1950 in der amerikanischen, britischen und sowjetischen Besatzungszone einheitliche Regelungen für alle körperbehinderten Menschen gegolten hatten, da die Besatzungsmächte Sonderregelungen für ,Kriegsbeschädigte‘ ablehnten, kehrte die junge Bundesrepublik mit dem Bundesversorgungsgesetz im Jahre 1950 zu einem besonderen Leistungssystem für kriegsversehrte Soldaten und zivile Kriegsopfer zurück. Bei der Volkszählung von 1950 gaben rd. 1,66 Mio. Personen auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland körperliche oder geistige Gebrechen an. Die Zahl der Menschen mit körperlichen Behinderungen belief sich auf 1,02 Mio., davon waren zwei Drittel Kriegsopfer40 – zu viele, als dass das Recht auf bevorzugte Unterbringung in Arbeit, wie es das Schwerbeschädigtengesetz von 1923 einräumte, durchgehalten werden konnte. Das „Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter“41 vom 16. Juni 1953 führte daher die Ausgleichsabgabe ein. Der Begriff des ,Schwerbeschädigten‘ hob nach dem Kausalprinzip einzelne Gruppen von Menschen mit körperlichen Schädigungen und Beeinträchtigungen hervor, wobei den Ursachen der Schädigung bei diesen Menschen offenkundig eine besondere Dignität zugesprochen wurde.

Während die Benennung der Kriegsverletzten (und der ihnen gleichgestellten Menschen mit körperlichen Schädigungen) als ,Schwerbeschädigte‘ nach 1945 unstrittig war, begann die Auseinandersetzung um die Benennung körperbehinderter Kinder – und damit auch um ihre sozialrechtlichen Ansprüche – von neuem. An die Traditionen vor 1933 anknüpfend, blieb die 1947 neu begründete ,Deutsche Vereinigung für Krüppelfürsorge‘ bei ihrem Namen.42 Ihr Publikationsorgan erschien hingegen bereits unter dem Titel ,Jahrbuch der Fürsorge für Körperbehinderte‘. 1950 legte die Vereinigung den Entwurf eines ,Fürsorgegesetzes für Körperbehinderte‘ vor, das an die Stelle des Preußischen Krüppelfürsorgegesetzes treten sollte. In diesem Gesetzentwurf (bekannt geworden als ,Kasseler Fassung‘) war der Begriff ,Krüppel‘ konsequent durch den Begriff ,Körperbehinderter‘ ersetzt worden.43 Die Bundesregierung hielt in ihrem ersten Gesetzentwurf aus dem Jahre 1953 an der Terminologie des ,Krüppelfürsorgegesetzes‘ fest, nach lebhaften Protesten von Seiten Betroffener ersetzte sie jedoch in ihrem um die Jahreswende 1954/55 vorgelegten zweiten Entwurf das Wort ,Krüppel‘ durch ,Körperbehinderter‘. Am 27. Februar 1957 wurde das „Gesetz über die Fürsorge für Körperbehinderte und von einer Körperbehinderung bedrohte Personen“44 verkündet.

Es war vor allem die 1958 gegründete Elternvereinigung ,Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e.V.‘, die das vor 1945 nur sehr selten gebrauchte Wort ,geistig behindert‘ in der Öffentlichkeit verbreitete. Es wurzelte zum einen in dem älteren Wortfeld ,schwachsinnig‘, ,geistesschwach‘, ,imbezill‘ usw., zum anderen knüpfte es an ein pädagogisches Wortfeld an: ,bildungsschwach‘, ,lebenspraktisch bildbar‘, ,motorisch bildbar‘. Zum dritten lehnte es sich an den englischen Sprachgebrauch an (,mentally retarded‘, ,mentally handicapped‘).45 Es kann als Erfolg dieser sprachpolitischen Bemühungen angesehen werden, dass der Gesetzgeber im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) vom 30. Juni 1961 (in der Novelle von 1969) ,körperlich, geistig und seelisch Behinderte‘ berücksichtigte – gegen den Widerstand des Reichsbundes, der im Gesetzgebungsverfahren geltend gemacht hatte, es könne ,die gemeinsame Behandlung körperlich und geistig Behinderter in der Öffentlichkeit missverstanden‘ werden und würde ,auf jeden Fall von den Körperbehinderten als Abwertung aufgefasst‘.46

Die Reform des Fürsorgerechts markiert eine Trendwende auch im Umgang mit Menschen mit Behinderung – das Leitbild des mündigen Staatsbürgers, der in besonderer Notlage einen einklagbaren Rechtsanspruch auf Sozialleistungen geltend machen kann, begann sich abzuzeichnen. Freilich: Die ,Hilfe zur Pflege in Einrichtungen‘, die ,Kranken­hilfe‘ und die ,Hilfe bei der Eingliederung Behinderter‘, die zusammen über 90 % der ,Hilfe in besonderen Lebenslagen‘ nach dem BSHG ausmachten, konnten das Stigma der Fürsorge nicht abstreifen.47 Überhaupt muss man sich hüten, die Entwicklungen in der Rechtssphäre mit der Realität der Behindertenhilfe gleichzusetzen. In den Heimen für behinderte Menschen veränderte sich bis weit in die 1960er Jahre hinein gegenüber der unmittelbaren Nachkriegszeit nur wenig. Hierhin gehören die oftmals menschenunwürdige Unterbringung ebenso wie der Mangel an Pflegepersonal und dessen fehlende Qualifikation, aber auch die Dimension der Gewalt in den Heimen, die sich in den jetzt anlaufenden Forschungen in Umrissen abzuzeichnen beginnt.48

Schon im ,Dritten Reich‘ hatte sich deutlich abgezeichnet, dass die Sozialgeschichte der Behinderung auf das engste mit Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt und in der Arbeitsmarktpolitik zusammenhängt. Das gilt auch für die ,langen 1960er Jahre‘, den Zeitraum von den ausgehenden 1950er Jahren bis zur ersten Ölpreiskrise im Jahre 1973. Seit der Trendwende im Jahre 1957 ging die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik rapide zurück. 1960 waren erstmals mehr offene Stellen gemeldet als Ar­beitslose – ein Zustand, den es im Zeitalter der kapitalistischen Wirtschaft noch nie gegeben hatte. Als die Arbeitslosenquote 1961 zum ersten Mal die Marke von einem Prozent unter­schritt, war – ganz gleich, welchen Maßstab man anlegen wollte – Vollbeschäftigung herge­stellt. Das arbeitsmarktpolitische Problem der Zukunft schien nicht mehr die Verhütung von Arbeitslosigkeit und die Versorgung von Arbeitslosen zu sein, sondern die Steigerung der Beschäftigung und die Sicherstellung der notwendigen beruflichen Qualifikation in einer sich wandelnden Arbeitswelt. Dies hatte auch grundlegende Auswirkungen auf die Behindertenpolitik. Die damals in Angriff genommene Reform des Bildungswesens hatte auch einen Ausbau des Sonderschulwesens zur Folge, seit den 1970er Jahren wandte man sich von diesen segregierenden Ansätzen ab und strebte eine verstärkte Integration behinderter Kinder und Jugendlicher in die Regelschulen an. Dabei gingen spürbare Impulse von der öffentlichen Wahrnehmung der etwa 3.000 von den Nebenwirkungen des Arzneimittels Contergan betroffenen Kinder aus.49 Das gilt auch für die berufliche Rehabilitation, die bis 1975 deutliche Fortschritte machte – vom Arbeitsförderungsgesetz bis zum Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation, dem Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter und der Neufassung des Schwerbehindertengesetzes.50 Die ,Werkstätten für Behinderte‘ (heute: ,Werkstätten für Menschen mit Behinderungen‘), die nach der Verabschiedung des Arbeitsförderungsgesetzes im Jahre 1969 in großem Stil gegründet wurden, entwickelten sich rasch zu einem eigenständigen Faktor des gemeinwirtschaftlichen Sektors.51

Ab Mitte der 1970er Jahre sind ganz grob zwei gegenläufige Tendenzen erkennbar.52 Mit der sich verfestigenden Massenarbeitslosigkeit schlug der Trend zur Frühverrentung – der zur besonderen Signatur der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der Ära Kohl gehörte – voll auf die Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben durch. Die berufliche Rehabilitation von Menschen mit Behinderungen hat sich daher nicht in dem Tempo fortentwickelt, das in den 1960er und frühen 1970er Jahren angeschlagen wurde. Auf der anderen Seite steht der Trend zum Ausbau ambulanter und komplementärer Hilfen gerade für geistig und seelisch behinderte und psychisch kranke Menschen, die fortschreitende Auflösung der Heime und die Abkehr vom Anstaltsgedanken. In dieser sozialpolitischen Entwicklung kommt einerseits der wachsende Einfluss von pressure groups zum Ausdruck – neben der Tätigkeit der Wohlfahrtsverbände und der Kriegsopferverbände, die sich tendenziell zu Interessenorganisationen aller Menschen mit Behinderungen entwickelt haben, ist hier die Formierung von Menschen mit Behinderungen zu Interessenaggregaten, als ,Krüppelbewegung‘ oder in Selbsthilfegruppen, zu nennen, um die Teilhabe am öffentlichen Diskurs zu erzwingen53 – inzwischen haben sich erste institutionalisierte Formen der Interessenvertretung herausgebildet. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass es im Zuge der Vereinigung der beiden deutschen Staaten aus der Notwendigkeit der Rechtsharmonisierung heraus auf der Verfassungsebene bedeutende Fortschritte für Menschen mit Behinderungen gegeben hat. Nicht nur wurde auf der Basis der Diskussionen in der durch den Einigungsvertrag eingesetzten Gemeinsamen Verfassungskommission 1994 das Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung in das Grundgesetz aufgenommen, entsprechende Verfassungsnormen sind auch in den meisten Landesverfassungen verankert worden. Davon sind neue Impulse für die spezifisch sozialstaatliche Interpretation des Rechts in seiner Anwendung auf behinderte Menschen ausgegangen – bis hin zum SGB IX von 2001. 1999 hat das Land Berlin das erste Gleichstellungsgesetz für Behinderte auf Länderebene verabschiedet, 2002 trat das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes in Kraft. Dies alles sind bedeutende Schritte auf der rechtlichen Ebene, welche die Bedingungen der Möglichkeit verbessern, Inklusion in allen gesellschaftlichen Subsystemen herzustellen. Von einer Gesellschaft, in der Vielfalt als Normalfall gilt, sind wir jedoch noch weit entfernt. Eine Sozialgeschichte der Behinderung zwischen Exklusion und Inklusion soll ihr Teil dazu beitragen, auf diesem Weg voranzuschreiten.

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Menschen mit Behinderungen in der DDR

Sebastian Barsch

Der Umgang mit Behinderung in der DDR blieb ein weitgehend vom gesellschaftlichen Bewusstsein ausgeblendeter, aus dem öffentlichen Leben verdrängter, jedoch mit einem beachtlichem und vielschichtig umgesetzten Entwicklungspotential ausgestatteter Teil der sozialen Wirklichkeit.

In der ersten Phase nach dem 2. Weltkrieg beschränkten sich Konzepte zum Umgang mit Behinderung im Osten Deutschlands zunächst primär auf medizinische Betreuung. Die Anstaltspsychiatrie aus der Vorkriegszeit wurde ähnlich wie in Westdeutschland ohne grundlegende Reformen wieder aufgenommen (vgl. Droste 1999, 58). Ausgearbeitete Ansätze zur Betreuung und gesellschaftlichen Eingliederung von behinderten Menschen gab es ebenso wenig wie eine ausreichende Anzahl an Einrichtungen, die derartige Aufgaben hätten übernehmen können. Recht früh wurde jedoch schon erkannt, dass insbesondere die Unterbringungsbedingungen von Kindern mit Behinderung verbesserungswürdig seien. Im Jahre 1946 etwa wies ein Assistenzarzt in der Rostocker Universitätsnervenklinik auf „die Unterbringungsprobleme und die ungute Situation der psychisch kranken Kinder in den offenen und geschlossenen Stationen der Erwachsenenpsychiatrie“ hin (Nissen 2005, 492). Auf diese Initiative hin wurde „eine separate kinderpsychiatrische Station mit zunächst 14 Betten“ (ebd.) eingerichtet. Ähnliche Entwicklungen vollzogen sich zwischen 1946 und 1949 in verschiedenen psychiatrischen und neurologischen Einrichtungen.

Außerhalb der Anstaltspsychiatrie wurde 1954 mit der ,Anordnung über die Durchführung der psychiatrischen Betreuung von Kindern und Jugendlichen‘ die ambulante Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit einer geistigen Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten gefordert. Eine praktische Umsetzung dieser Anordnung war in den 1950er Jahren allein aufgrund des zunehmenden Ärztemangels – viele Ärzte siedelten bis 1961 nach Westdeutschland über – kaum möglich.

Am 1. Oktober 1945 nahmen „die wenigen noch bestehenden Sonderschulen [...] den Unterricht wieder auf“ (Werner 1999, 54). Die Zerstörungen durch den Krieg und der Mangel an Lehrern verhinderten eine flächendeckende Beschulung aller Kinder. Das Sonderschulsystem war nur nach wenigen Behinderungsarten differenziert: Es gab Schulen für Hör- und Sprachgeschädigte, Blinde- und Sehgeschädigte sowie ,Schwachsinnige‘ (d.h. Hilfsschüler) und Schwererziehbare. Zu diesem Zeitpunkt existierten noch keine Schulen für Schülerinnen und Schüler mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung. Der II. Pädagogische Kongress in Leipzig 1947 forderte ein wesentlich differenzierteres Sonderschulwesen. Es wurde ein Beschluss gefasst, der das Recht auf Bildung aller Kinder konkretisieren und sichern sollte.

Im selben Jahr wurde bei der ,Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung‘ das ,Referat für Sonderschulen‘ eingerichtet. Seine Aufgaben lagen vor allem in der Bestandsaufnahme der Schulen, der Erarbeitung von Richtlinien und Arten von Sonderschulen sowie der Organisation von Sonderschulaufnahmeverfahren. Die Arbeitsergebnisse des Referats gingen in die Ausführungsbestimmungen zum §6 des Gesetzes zur Demokratisierung der deutschen Schule im Jahr 1947 ein. Sie regelte die näheren Bedingungen des Sonderschulwesens sowie das Verhältnis zwischen Sonderschule und Grundschule. Konkret hieß es in den Ausführungsbestimmungen:

„Kinder, die sich wegen körperlicher und geistiger Gebrechen für die Ausbildung in der Grundschule nicht eignen, werden für sie geeigneten Sondereinrichtungen zugeführt. (Sonderschulen für Blinde, Taube, Körperbehinderte, Schwererziehbare u.a.) [...]

Kinder, die infolge ihrer körperlichen oder geistigen Gebrechen auch in Sondereinrichtungen nicht gefördert werden können, werden vom Besuch der Grundschule befreit“ (zit. nach Werner, 1999, 56).

Der letzte Satz zeigt, dass es in der SBZ und frühen DDR, ähnlich wie in der Bundesrepublik zu dieser Zeit, problemlos möglich war, Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen von schulischer Bildung auszuschließen. Ab Mitte der 1950er Jahre wurde zunehmend die Forderung laut, „im Interesse der Optimierung des Unterrichts in den Hilfsschulen die sog. ‚bildungsunfähigen‘ schwachsinnigen Kinder auszuschulen“ (Eßbach 1985, 44).

Grundsätzlich basierte das Modell von Behinderung in der frühen DDR auf der Ideologie einer Unvereinbarkeit von Behinderung und sozialistischer Gesellschaft. Dies äußerte sich u.a. im Fehlen von Behinderung im gesellschaftlichen Leben und im öffentlichen Bewusstsein. Psychisch „Kranke und Behinderte“ waren im Gesellschaftssystem der DDR der 1950er Jahre „nicht eingeplant, sie kamen auch in den öffentlichen Medien lange nicht vor“ (Jun 2002, 54). Die Psychiaterin Gerda Jun erinnert sich in diesem Zusammenhang an ein Seminar für Gesellschaftswissenschaften, das sie in den 1950er Jahren im Rahmen ihres Studiums besuchte. Dort hieß es: „In der Zukunft wird es keine oder kaum noch Probleme durch psychische Störungen oder andere Fehlentwicklungen geben. Die Umwelt formt den Menschen, und wir bauen eine neue Gesellschaft auf“ (ebd.; Jun im Interview im Jahr 2004).

Etwa seit den frühen 1960er Jahren fand das Thema ,Behinderung‘ bzw. ,Schädigung‘ verstärkt Einzug in die pädagogische Theorie, voran getrieben vor allem durch den Ausbau der akademischen Rehabilitationswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ausgegangen wurde von der Prämisse, dass die sozialistische Ideologie und die marxistisch-leninistische Weltanschauung dazu führen müsse, dass ,geschädigte‘ bzw. ,behinderte‘ Menschen in der Gesellschaft als gleichwertige Mitglieder aufgenommen wurden. So hieß es z.B. bei Körner, Löther & Thom 1981:

„Zu den wesentlichen Kennzeichen der sozialistischen Gesellschaftsordnung gehört ihr realer Humanismus. Der Mensch steht im Sozialismus im Mittelpunkt. Das Wohl des Menschen und das Glück des Volkes sind das oberste Ziel sozialistischer Gesellschaftsentwicklung“ (ebd. 11).

Im Vergleich zur allgemeinen sozialistischen Pädagogik fragten die Rehabilitationspädagogen, welche Antworten die sozialistische Ideologie für den ,durch Missbildung, Krankheit oder Unfall bleibend geschädigten, körperlich oder geistig behinderten Menschen‘ bereit hält und was sie ,für das Verhältnis der Gesellschaft und ihrer Bürger zum geschädigten Mitmenschen‘ (vgl. Körner, Löther & Thom: Sozialistischer Humanismus und die Betreuung Geschädigter, 1981) aussagt. Sie stellen fest: „Diese ins Detail gehende Beantwortung der Fragen steht noch aus. In der philosophischen Literatur zum sozialistischen Humanismus und zur Persönlichkeitstheorie jedenfalls schlägt man vergeblich nach“ (ebd. 11). Sie sehen die gesellschaftliche Position des Individuums „durch die Gesamtheit seiner Beziehungen in der Gesellschaft bestimmt, wobei die Produktionsverhältnisse die grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnisse sind. [...] Sozialistische Produktionsverhältnisse sind die objektive Voraussetzung dafür, daß die freie Entwicklung eines jeden zur Bedingung für die freie Entwicklung aller wird“ (ebd.).

Andere Autoren gingen davon aus, dass auf dem Hintergrund des Sozialismus die ,Stellung des geschädigten Menschen in der Gesellschaft‘ von ,sozialökonomischen Bedingungen, von den bestehenden politischen und ideologischen Verhältnissen‘ geprägt wird. „Die Stellung, die er als Erwachsener in der Gesellschaft einnehmen kann, hängt von den Möglichkeiten ab, die ihm die Gesellschaft vom frühen Kindesalter an für seine Entwicklung und Ausbildung zu geben bereit ist“ (Eßbach 1981, 39).

Ausgehend von derartigen Überlegungen wurde gefordert, dass ein Ziel des sozialistischen Humanismus darin liegen sollte, auch behinderte Bürger zu befähigen, zum Wachstum der sozialistischen Produktionsverhältnisse beizutragen – ohne dass ihr Wert nach der Effizienz ihres produktiven Handelns bewertet werden sollte. Für die Autoren lag der Humanismus des Sozialismus gerade darin, dass z.B. Menschen mit schwersten Behinderungen nicht nach Kriterien der Produktivität beurteilt werden, sondern Pflege, Betreuung und Bildungsangebote auch diesen Menschen auf Grund der gesellschaftlichen Situation entgegen gebracht werden sollten. Ihrer Ansicht nach war dies in ,kapitalistischen‘ Gesellschaften nicht möglich:

„Es kommt einer Selbstentlarvung dieser Gesellschaft gleich, wenn Freiwilligenorganisationen unter Nutzung von Funk und Fernsehen nicht nur um Mittel zur Lösung ihrer humanitären Aufgaben bitten, sondern um eigentlich selbstverständliche Dinge, wie ‚ein Herz für unsere Kinder‘ werben müssen“ (Eßbach 1981, 39f.).

Sozialismus wurde als ,der moralische Fortschritt der Menschlichkeit, die sittliche Menschwerdung des Menschen, seine bisher höchste Entwicklungsetappe‘ beschrieben. Bezogen auf Menschen mit Behinderungen hieß es, dass tatsächliche Verbesserungen dieser Gruppe in kapitalistisch geprägten Gesellschaften nicht möglich seien:

„Da nicht der Mensch, sondern der Profit im Zentrum des Kapitalismus steht, stößt eine umfassende humanistische Lösung der Geschädigtenfrage [...] auf dem Gesellschaftssystem innewohnende Grenzen. Profitstreben und Konkurrenzkampf, die aus dem kapitalistischen Privateigentum an den Produktionsmitteln hervorgehen, äußern sich in einer Haltung, die von ihren Apologeten beschönigend ‚Leistungsdenken‘ genannt wird“ (Körner, Löther & Thom 1981, 23).

Das zentrale Ziel der Rehabilitationspädagogik verortet sich im Ausdruck ,Rehabilitation‘:

„Im Begriff ‚Rehabilitation‘ ist die Gesamtheit aller Bemühungen enthalten, die dem Ziel der Eingliederung geschädigter Menschen in das gesellschaftliche Leben dient. Hierzu gehören medizinische, pädagogische, juristische und fürsorgerische Maßnahmen, die zur Erreichung des höchstmöglichen Wirkungsgrades aufeinander abgestimmt sein müssen“ (Voigt & Müller 1961, Vorwort).

Die allgemeinen Ziele der rehabilitationspädagogischen Bildungs- und Erziehungsarbeit in der DDR waren denen der Regelschulpädagogik gleichgestellt, nämlich die ,Bildung und Erziehung allseitig und harmonisch entwickelter sozialistischer Persönlichkeiten‘. Dies galt grundsätzlich auch für Kinder und Jugendliche mit einer geistigen Behinderung. Ähnlich wie in der Bundesrepublik gab es auch in der DDR bis Ende der 1970er Jahre keine allgemeine Schulpflicht für diese Gruppe. Ihre Betreuung erfolgte vorrangig im Elternhaus, Heimen oder psychiatrischen Einrichtungen. Vereinzelt wurden in bestimmten Gebieten, dort wo ausreichende Kapazitäten in den Hilfsschulen vorhanden waren, auch Teile der Kinder und Jugendliche mit einer geistigen Behinderung beschult. Jedoch galt: „Sämtliche Beschulungsmaßnahmen kamen nur für sogenannte ‚bildungs- und erziehungsfähige‘ Kinder in Frage, d.h. die Schulpolitiker hielten sich die Möglichkeit offen, die allgemeine Schulpflicht einzugrenzen und bei einzelnen Schülern auszusetzen“ (Werner 1999, 56).

Ab Mitte der 1960er Jahre wurden vermehrt Tagesstätten für geistig behinderte Kinder eingerichtet. In den ersten Jahren verfügten diese Einrichtungen nur ungenügend über pädagogisch ausgebildetes Personal. In einem Dokument mit dem Titel ,Informationsmaterial zum Problem der Betreuung und Förderung der geistig schwer behinderten, förderungsfähigen Kinder und Jugendlichen‘ von 1968, das auch dem Ministerium für Gesundheitswesen vorlag, hieß es diesbezüglich:

„Das Gesundheitswesen verfügt nicht über die pädagogischen Kräfte, die für eine gezielte Förderung der geistig schwer behinderten, förderungsfähigen Kinder unbedingt vorhanden sein müssen. Wir erachten es deshalb als notwendig, daß die Volksbildung sich mehr als bisher der Förderung der geistig schwer behinderten, förderungsfähigen Kinder annimmt“ (Privatarchiv Dr. Anstock, Rodewisch).

1973 entstand an der Humboldt-Universität in Berlin der erste ,Entwurf eines Rahmenplanes zur Förderung schulisch nicht mehr bildbarer, aber noch förderungsfähiger hirngeschädigter Kinder und Jugendlicher in Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens‘. Damit wurde erstmals eine pädagogische und methodische Richtlinie für die Arbeit mit geistig behinderten Kindern und Jugendlichen in der DDR veröffentlicht. Das Material wurde in 140 Förderungseinrichtungen erprobt und in den Folgejahren überarbeitet und erweitert. Ab 1977 wurde zudem der zweite Teil dieses Grundlagenwerks entwickelt, der im Sinne einer Richtlinie die Inhalte der Förderungsdisziplinen vorstellte. Beide Teile zusammen erschienen in einer Endfassung im Jahr 1987.

Im Vorwort zur Richtlinie wurde explizit darauf hingewiesen, dass das Material nicht auf die Arbeit mit geistig schwerstbehinderten Kindern und Jugendlichen ausgerichtet war. In diesem Punkt zeigt sich deutlich, dass die Entwicklungen in der Sonderpädagogik in der DDR und der Bundesrepublik spätestens seit den späten 1970er Jahren auseinander drifteten: während im Schulsystem der DDR an der Trennung von behinderten und nichtbehinderten Schülern festgehalten wurde und Schulbildungsfähigkeit – letztlich auch Bildungsfähigkeit insgesamt – an kognitiver Leistungsfähigkeit gekoppelt war, setzte sich in der Bundesrepublik im Rahmen der Integrationsdebatte ein Bildungsbegriff durch, der uneingeschränkt für alle Kinder gelten sollte (vgl. Ellger-Rüttgardt 2008, 327). Somit wurden nahezu alle Kinder in Bildungseinrichtungen eingegliedert, mit Hilfe des Ausbaus des Sonderschulwesens und einer Ausweitung der Zuständigkeit der Sonderschulen für Geistigbehinderte auch Schüler mit schwersten Behinderungen. Gleichzeitig trat eine Annäherung zwischen Sonder- und Regelschule ein, mit Forderungen, das Sonderschulwesen als solches gänzlich aufzulösen – auch wenn diese Forderungen bis heute nicht umgesetzt wurden.

Gleichwohl das Bildungswesen für Schüler mit einer geistigen Behinderung seit Mitte der 1970er Jahre in der DDR eine spürbare Verbesserung erfuhr, wurde bis zur Auflösung dieses Staates keine flächendeckende Unterbringung dieser Personengruppe in den Förderungseinrichtungen erreicht (vgl. Winkler 1990, 353). Für schwerstbehinderte Kinder gab es anders als in den meisten Ländern der Bundesrepublik seit den frühen 1980er Jahren keine verpflichtende Förderung und dem entsprechend kaum Förderorte. Diese ,nicht förderungsfähigen‘ bzw. Pflegefälle (IQ < 20) hatten kein Recht auf schulische Bildung bzw. Beschulung. Es gab auch kein dezidiertes Betreuungsrecht. Die übliche Betreuung fand im Elternhaus oder in Heimen kirchlicher Einrichtungen inkl. Altersheimen oder psychiatrischen Kliniken statt. Personen, die ihre berufliche Tätigkeit unterbrechen mussten, um schwerstbehinderte Familienangehörige zu pflegen, erhielten lediglich eine monatliche Unterstützung von 200 Mark ohne zeitliche Begrenzung (vgl. ebd.).

Über die Lebenssituation von erwachsenen Menschen mit Behinderungen ist im Gegensatz zu der von Kindern und Jugendlichen weit weniger bekannt. Es lassen sich jedoch an Hand einiger gut dokumentierter Beispiele historische Skizzen der Alltagswirklichkeit nachzeichnen.

Am reichhaltigsten erweist sich die Quellenlage für den Bereich der Arbeitswelt. Die sogenannte ,geschützten Arbeit‘ in der DDR wird heute i.d.R. als ein verhältnismäßig gut ausgebautes System beschrieben (vgl. Bundesministerium für Gesundheit 1991). 1985 arbeiteten ca. 5.600 körper- oder geistig behinderte Menschen in geschützten Werkstätten des Gesundheitswesens, 5.400 in geschützten Betriebsabteilungen und 30.600 in geschützten Einzelarbeitsplätzen in Betrieben und Einrichtungen. Insbesondere ab Mitte der 1970er Jahre lässt sich eine Aufstockung der Arbeitsplätze für behinderte Menschen beobachten.

Die positiven Bedingungen für die Einrichtung geschützter Arbeitsplätze verdeutlichen, dass Rehabilitation sehr stark mit der Teilnahme am Arbeitsprozess verbunden war – ein Umstand, der sich nicht zuletzt aus dem ideologischen Überbau des Sozialismus herleitete.

Jugendliche mit einer geistigen Behinderung, die zuvor eine Förderungseinrichtung besuchten, konnten nach dieser Zeit eine geschützte Arbeitsstelle besuchen. Die Arbeitszeit betrug je nach Leistungsvermögen zwischen vier Stunden und einem vollen Arbeitstag. Der Lohn wurde an der Arbeitszeit bemessen. Ein Arzt konnte für einen befristeten Zeitraum ,Schonarbeit‘ anordnen.

Die Bandbreite der Tätigkeiten reichte von Hilfsarbeiten in Garten, Küchen oder sonstigen Servicebereichen bis hin zu solchen in industriellen Produktionen. Dort wurden etwa einfache Montage- und Verpackungsarbeiten durchgeführt. Für Schonarbeit und geschützte Arbeit galt insgesamt, dass sie nicht unter ökonomischen Gesichtspunkten vergeben wurden. Vielmehr wurden die Betriebe zur Einrichtung solcher Arbeitsplätze verpflichtet. Für die in der geschützten Arbeit Tätigen galt ein besonderer Kündigungsschutz. Kündigungen waren nur nach einer strengen Prüfung durch die Kreisrehabilitationskommission möglich.

Der Ausbau geschützter Arbeitsplätze stagnierte in den letzten Jahren der DDR, was evtl. darauf schließen lässt, dass eine Sättigung auf diesem Teil des Arbeitsmarktes eingetreten war, obwohl eine flächendeckende Arbeitsplatzvergabe für Menschen mit einer geistigen Behinderung nicht vorhanden war und territorialen Unterschieden unterlag.

Schwerstbehinderte Menschen, die nicht in der Lage waren, einer geregelten Arbeit nachzugehen, wurden – sofern Plätze vorhanden waren und sie nicht innerhalb der eigenen Familie betreut wurden – in Tagesstätten des Gesundheits- und Sozialwesens, gelegentlich auch in Tagesstätten von Betrieben und konfessionellen Einrichtungen, versorgt. Die Betreuten hatten den Status von Rentenempfängern mit geringen Selbstbeteiligungskosten bei Mittagessen, bei Transporten oder Urlauben (75% der Kosten für diese wurden von der jeweiligen Einrichtung übernommen). Theoretisch war eine geschützte Arbeit auch im Rahmen eines Daueraufenthaltes in einer psychiatrischen Klinik möglich. Es gibt jedoch kaum Berichte, dass diese Möglichkeiten tatsächlich regelmäßig umgesetzt wurden. Wie im Bildungsbereich ist auch hier zu beobachten, dass Angebote für schwerstbehinderte Menschen kaum vorhanden waren.

Die Teilhabe am kulturellen Leben war staatlich nicht zentral organisiert. Diejenigen Bereiche, die im Westen von Verbänden und Elterninitiativen ausgefüllt wurden, übernahmen in der DDR ohne zentrale Steuerung Privatpersonen oder die Mitarbeiter von Fürsorgeeinrichtungen. So gibt es mehrere Berichte von ,Klubs‘, die in verschiedenen Städten aufgebaut wurden und in denen Menschen mit Behinderungen Betreuung bei Freizeitaktivitäten fanden. Im Taubblindenwohnheim des Oberlinhauses in Potsdam etwa hieß es in einem internen Dokument:

„Es sind mehr Möglichkeiten zu schaffen, die Freizeit zu gestalten und zu genießen. Das bedeutet, daß in der Spätschicht ausreichend Mitarbeiter da sind, die dazu Zeit haben. Versucht werden sollte, einen ‚Club der Taubblinden‘ zu gründen, wo gemeinsam etwas unternommen wird; wo die einzelnen sich verwirklichen können; wo sie sich entfalten können; ihre Hobbys pflegen und zusammensitzen können. Auch an Gaststätten- und Kinobesuche ist gedacht. Dadurch können neue Impulse für das Zusammenleben im TBH ausgelöst werden. Die Wünsche der Heimbewohner sollten größere Beachtung und Realisierung finden“ (Archiv Oberlinhaus).

Speziell in dieser Einrichtung sollte den Bewohnern darüber hinaus regelmäßige Verwandtenbesuche ermöglicht werden. Verschiedene Höhepunkte im Jahresablauf wie etwa Fasching, Zoo- und Zirkusbesuche oder Urlaube, sollten das Jahr strukturieren. Tatsächlich konnten diese Ideen aber nur bis zu einem gewissen Grad umgesetzt werden. Im selben Dokument heißt es abschließend: „Alles, was über die Grundbetreuung (Mahlzeiten, Wäsche, Medizin) hinausgeht, steht und fällt mit der Zahl der Mitarbeiter im jeweiligen Bereich“ (ebd.).

Ein Beispiel für einen privat initiierten Klub findet sich im thüringischen Ilmenau. Dort gründete Christine Fraas, die Mutter von einer Tochter mit Down-Syndrom, zusammen mit dem damaligen Kreisarzt im Jahr 1976 den ,Reha-Klub der FDJ Ilmenau‘. Die Idee zum Aufbau kam den beiden Initiatoren, da Freizeitangebote für Menschen mit geistiger Behinderung komplett fehlten. Auch wenn der Klub offiziell in Kooperation mit der örtlichen FDJ betrieben wurde, waren deren Mitglieder in der Regel nicht aktiv an der Durchführung der Sitzungen beteiligt. Die Treffen wurden von freiwilligen Helfern betreut. Finanziert wurde die Arbeit neben Zuschüssen der FDJ von der Kreisstelle für Rehabilitation, dem Kreiskabinett für Kulturarbeit und vom Rat der Stadt Ilmenau, Abteilung Kultur. Ab 1977 wurden die ,Rehabilitanden‘ für den Klubtag von der Arbeit freigestellt. Die Leiter der geschützten Betriebsabteilungen konnten mit dem Argument überzeugt werden, dass Kulturarbeit für andere Werktätige in der DDR auch bezahlt wurde und es somit keinen Grund zur Ablehnung der Kulturarbeit mit geistig behinderten Mitarbeitern gab.

Die monatlichen Treffen wurden von 8.00 bis 11.30 Uhr im Jugendklubhaus der Stadt durchgeführt. Das Programm der Klubtage sah verschiedene Aktivitäten wie Basteln, Singen und Disko, aber auch die Thematisierung politischer Fragen und lebenspraktische Bildung vor. Die Treffen wurden durchschnittlich von 30 jugendlichen und erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung besucht. Im Jahre 1978 wurde mit der Kreisbibliothek Ilmenau ein Patenschaftsvertrag abgeschlossen, in dem sich die Bibliothek dazu verpflichtet, ein bis zwei Klubveranstaltungen pro Jahr in einer Zweigstelle durchzuführen, um so den Klubmitgliedern die Möglichkeit der Integration in die Gesellschaft zu erleichtern. Einmal jährlich bot der Reha-Klub eine Jugendherbergsfahrt an. Die Fahrten kosteten durchschnittlich 1000 Mark für fünf Tage und zwanzig Teilnehmer. 300 Mark steuerte die FDJ bei, den Rest der Rat der Stadt Ilmenau, Abteilung Kultur. Tatsächlich stellte die Beschaffung finanzieller Mittel kein allzu großes Problem dar, da ,rehabilitative Ferienbetreuung‘ seit den 1980er Jahren auch politisch gefordert wurde (vgl. Beger, Rietz & Siek 1987, 8f.). Wesentlich schwieriger war es, genügend Betreuer für die Fahrt zu finden.

Wie für viele andere Bereiche der Lebenswirklichkeit geistig behinderter Menschen in der DDR gilt auch für den Freizeitbereich, dass es für schwerstbehinderte Menschen ein unzureichendes bis gar nicht ausgebautes Angebot gab. Es gibt z.B. kaum Hinweise, dass Ferienfreizeiten für Menschen mit schwersten Behinderungen angeboten wurden. Den Reha-Klub in Ilmenau besuchten ausschließlich arbeitende Personen. Für diejenigen, die nicht einer geschützten Arbeit nachgingen und in Heimen, Krankenhäusern und Psychiatrien untergebracht waren, waren die Angebote und Möglichkeiten im Freizeitsektor wesentlich eingeschränkter oder schlichtweg nicht vorhanden.

Auch bei den Wohnbedingungen von Menschen mit Behinderungen zeigt sich ein ambivalentes Bild. Sie waren, insbesondere für Menschen mit einer geistigen Behinderung, alles andere als befriedigend. Ein Großteil dieser Gruppe dürfte in ihren Elternhäusern untergebracht gewesen sein. Die Familien erhielten lediglich ein geringes Sonderpflegegeld (vgl. Garlipp & Theunissen 1996, 364). Daneben wurden viele Menschen mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung dauerhaft in Feierabend- sowie Pflegeheimen und psychiatrischen Einrichtungen untergebracht. Dies galt insbesondere für ,Pflegefälle‘ bzw. in der späteren Bezeichnung an der Humboldt-Universität ,elementar Förderfähige‘, für die primär eine pflegerische Betreuung und medizinische Versorgung vorgesehen war. 1986 gab es laut einem Arbeitspapier des Ministeriums für Gesundheitswesen 2.251 Wohnheimplätze und 11.772 Pflegeheimplätze.

Die Verweildauer in psychiatrischen Krankenhäusern betrug bei 50% der Betten mehr als 2 und 25% der Betten mehr als 10 Jahre (vgl. Bach 1992, 26). Die baulichen und strukturellen Bedingungen dieser Einrichtungen waren meist wenig zufriedenstellend. Auch konzeptionell orientierte sich die Einrichtung nicht an den Bedürfnissen von Langzeitbewohnern. „Pflegeheime, die besucht wurden, boten ein tristes Bild: Mehrbettzimmer, ärmliche Möblierung, und vor allem: keine Förderung“ (Klee 1993, 110). Bemühungen zur Lösung dieser Problematik gab es. Sie führten in den 1980er Jahren zu einem gestärkten Problembewusstsein bei Vertretern des Gesundheits- und Sozialwesens. Das Problem konnte jedoch nicht ausreichend gelöst werden, was weniger auf personellen oder konzeptionellen Unzulänglichkeiten beruhte, denn auf dem Fehlen von finanziellen Mitteln.

In der Gesamtbetrachtung ist indes festzuhalten, dass die negativen Bedingungen nicht pauschal für alle Anstalten galten. Je nach Reputation der Einrichtung, aber auch durch die Initiativen von Einzelpersonen, konnten vereinzelt befriedigende bis gute Wohn- und Unterbringungsmöglichkeiten geschaffen werden. Neuere Untersuchungen fanden überdies keine Hinweise auf einen systematischen Missbrauch in ostdeutschen Psychiatrien (vgl. Richter 2001).

Zusammenfassend werden drei Widerspruchsebenen deutlich:

  1. Der Umgang mit behinderten Menschen in der DDR vollzog sich vor dem Hintergrund der ideologischen Unvereinbarkeit von Sozialismus und Behinderung. Dies und das Fehlen von Interessen- und Elternverbänden begünstigten die weitgehende Verdrängung des Themas Behinderung aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein. Dem gegenüber standen die, maßgeblich durch die Rehabilitationspädagogik initiierten und fachlich fundierten, Erfolge, Teilhabemöglichkeiten zu erschließen und zu organisieren.
  2. Der Verbesserung der Lebensbedingungen für viele Menschen mit Behinderungen stand ein unzureichender Fortschritt in Bezug auf die Bildungs-, Betreuungs- und Arbeitsmöglichkeiten von Menschen mit schwersten Behinderungen gegenüber. Der politisch deklarierte Anspruch, nach dem im Zuge des ,sozialistischen Humanismus‘ die Lebensbedingungen für alle Bürger der DDR verbessert werden sollten, erreichte diese Personengruppe nicht.
  3. Für Menschen mit Behinderungen bestand ein tiefer Widerspruch zwischen begrenzter Teilhabe und erlebter Ausgrenzung.

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Literaturverzeichnis

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Barsch, S.: Geistig behinderte Menschen in der DDR. Erziehung – Bildung – Betreuung. Oberhausen 2007.

Becker, K.-P. und Autorenkollektiv: Rehabilitationspädagogik. Berlin (Ost) 1979.

Beger, A./ Rietz, H./ Siek, K.: Urlaub mit intellektuell geschädigten Jugendlichen. Erfahrungen und Empfehlungen. Berlin (Ost) 1987.

Birthler, M.: ,Vergangenheit lässt sich nicht beerdigen‘. Interview im Kölner Stadtanzeiger vom 29./30. Juli 2006.

Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.): Zur Lage der Psychiatrie in der ehemaligen DDR. Bonn 1991.

Droste, Th.: Die Historie der Geistigbehindertenversorgung unter dem Einfluß der Psychiatrie seit dem 19. Jahrhundert. Eine kritische Analyse neuerer Entpsychiatrisierungsprogramme und geistigbehindertenpädagogischer Reformkonzepte. Forum Behindertenpädagogik. Band 2 (hg. von Ulrike Schildmann). Münster 1999.

Ellger-Rüttgardt S.: Geschichte der Sonderpädagogik. Eine Einführung. München 2008.

Eßbach, S. und Autorenkollektiv: Ein Kind kann keine Schule besuchen – hat es überhaupt eine Entwicklungschance? Eine Information zur Bildung und Erziehung schulisch nicht mehr bildbarer, rehabilitationspädagogisch jedoch noch förderungsfähiger hirngeschädigter Kinder. Berlin (Ost) 1981.

Eßbach, S. und Autorenkollektiv: Rehabilitationspädagogik für schulbildungsunfähige förderungsfähige Intelligenzgeschädigte. Berlin (Ost) 1985.

Garlipp, B./ Theunissen, G.: Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung in der DDR. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 9/1996, 360-365.

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Klee, E.: Irrsinn Ost – Irrsinn West. Psychiatrie in Deutschland. Frankfurt/ M. 1993.

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Nissen, G.: Kulturgeschichte seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen, Stuttgart 2005.

Richter, E.: Psychiatrie in der DDR: Stecken geblieben – Ansätze vor 38 Jahren. In: Deutsches Ärzteblatt 98, Ausgabe 6 vom 09.02.2001, Seite A-307 / B-259 / C-241. Online unter: http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?src=heft&id=25939 (Abgerufen am 14.6.2009)

Werner, B.: Sonderpädagogik im Spannungsfeld zwischen Ideologie und Tradition. Zur Geschichte der Sonderpädagogik unter besonderer Berücksichtigung der Hilfsschulpädagogik in der SBZ und der DDR zwischen 1945 und 1952, Hamburg 1999.

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Winkler, G. (Hrsg.): Sozialreport DDR 1990. Daten und Fakten zur sozialen Lage in der DDR. Stuttgart 1990.

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Paul Braune und der Kampf gegen die Ermordung von Menschen mit Behinderungen

LeRoy Walters

Im Mai 1922 trat der evangelischer Pfarrer Paul Gerhard Braune (geb. 1887) die Leitung der Hoffnungstaler Anstalten in Lobetal nordöstlich von Berlin an. Während der folgenden 18 Jahre – bis 1940 – betreute er die Entwicklung dieses Bethel-Heimes für obdachlose Menschen zu einer facettenreichen Organisation, die sich einem breiten Spektrum von Menschen annahm. Diese Menschen hatten Schwierigkeiten, mit dem Leben der deutschen Gesellschaft im 20. Jahrhundert – besonders in den großen Städten – zurecht zu kommen. Darunter befanden sich Menschen mit Behinderungen, Senioren, Arbeitslose und junge Frauen die als ,gefährdet‘ eingestuft worden waren1. Mit der Zeit übernahmen die Hoffnungstaler Anstalten die administrative Verantwortung für verschiedene Tochtereinrichtungen, unter anderem auch für das Heim ,Gottesschutz‘ in Erkner2.

Dieser Essay soll darlegen, wie Paul Braunes Aufsicht über die Einrichtung in Erkner zu gravierenden Konfrontationen zwischen Braune und den Hauptverantwortlichen des sogenannten ,Euthanasie‘-Programms der Nationalsozialisten führte. Zudem werde ich versuchen, die Lebensgeschichten mehrerer Menschen zu beschreiben, deren Leben durch diese gnadenlose Kampagne gegen Menschen mit Behinderungen auf radikale Weise beendet wurde. Von dem frühzeitigen Tode dieser Menschen erfuhr Braune nur durch monatelange, akribische Untersuchungen. Abschließend werde ich die persönlichen Konsequenzen von Braunes Widerstand für ihn und seine Familie ansprechen und der Frage nachgehen, ob Braunes Bemühungen letztlich von Erfolg gekrönt waren.

Paul Braunes Kampf gegen die Ermordung von Menschen erfolgte auf zwei eng miteinander verzahnten Ebenen. Es gelang ihm im Mai 1940 als Leiter der Hoffnungstaler Anstalten Lobetal und Vorsteher des Heimes ,Gotteschutz‘ in Erkner3, den geplanten Abtransport von Heimbewohnern zu verhindern. Braune gab sich allerdings nicht damit zufrieden, die in Gefahr schwebenden jungen Frauen in Erkner zu retten. Während der Monate Mai, Juni und Juli im Jahr 1940 unternahm er intensive, systematische Nachforschungen bezüglich der weiter reichenden Zusammenhänge, was die örtlichen Aktionen betraf. Mitte Juli trug er seine Ergebnisse in der Denkschrift mit dem Titel ,Betrifft: planmäßige Verlegung der Insassen von Heil- und Pflegeanstalten‘ zusammen4. Braunes Denkschrift war von weitreichender Bedeutung.

Im Januar 1940 erhielten die im Wehrkreis III gelegenen Heil- und Pflegeanstalten, so auch die Hoffnungstaler Anstalten, ein Schreiben des örtlichen Reichsverteidigungskommissars.5 Dort wurde mitgeteilt, dass „im Zuge der Neugestaltung des Heil- und Pflegeanstaltswesens […] die Verlegung einer größeren Anzahl von Insassen“6 unmittelbar bevorsteht. Ende Januar 1940 erfolgte der Abtransport von 13 Patienten aus der Einrichtung für Epilepsiekranke in Pfingstweide in Württemberg. Bis zum 18. Februar waren die Familien von vier der 13 Patienten über den Tod ihrer Angehörigen informiert worden. Die Benachrichtigungen waren aus einer unmittelbar zuvor eingerichteten Heil- und Pflegeeinrichtung namens Grafeneck7 verschickt worden. Im Präsidium des Centralausschusses für Innere Mission (CA) wurde die gesamte Thematik erstmals am 13. Februar 1940 behandelt.8 Obwohl Braune dieser Sitzung nicht beiwohnte, wird er als Vizepräsident des CA sicherlich kurz darauf davon erfahren haben. Gleiches gilt für den detaillierten Bericht der örtlichen Leiter der Inneren Mission in Württemberg vom 30. März 1940 an den CA.9

Vor diesem Hintergrund ordnete Braune ein Schreiben des Oberpräsidenten unter dem 25. April 1940 ein.10 Dort wurde ihm und der leitenden Diakonisse des Heimes ,Gottesschutz‘, Elisabeth Schwartzkopff11 mitgeteilt, dass am 4. Mai 1940 der Abtransport von 25 Frauen aus dem Mädchenheim ,Gottesschutz‘, deren Namen auf der beigefügten Liste12 erfasst waren, mit Bussen der Gemeinnützigen Krankentransportgesellschaft erfolgen werde. Dabei waren die persönlichen Akten mit den Krankheitsgeschichten der Frauen dem Transportleiter auszuhändigen.13 Zunächst versuchte Braune den Abtransport hinauszuzögern. Es gelang ein einwöchiger Aufschub – bis zum Samstag den 11. Mai 1940. Als die Busse einen Tag früher, also am 10. Mai 1940, eintrafen, verhandelte Braune telefonisch mit dem Transportleiter. Vermutlich rief er aus Lobetal an. Braune behauptete, dass die nötigen Vorbereitungen noch nicht getroffen seien. Im Ergebnis dieser Verhandlung zog der Transportleiter „unverrichteter Sache“14 ab, wie Braune an Friedrich v. Bodelschwingh berichtete.

Vermutlich wurde Braune in Folge der Sitzung des CA vom 30. April 1940 zu einer der Hauptpersonen des Widerstands der Inneren Mission gegen die Euthanasie.15 Die Zusammenkunft fand zwischen der Verlegungsanordnung vom 25. April 1940 und dem geplanten Abtransport der 25 Frauen aus Erkner am 4. Mai 1940 statt.

Die Akten im Archiv der Hoffnungstaler Anstalten Lobetal enthalten detaillierte Hinweise bzgl. der Informationsquellen, Tiefe und Reichweite von Braunes Recherchebemühungen im Mai, Juni und der ersten Hälfte des Julis 1940. Braune erhielt Informationen aus allen Teilen des Reiches, sprach mit Regierungsbeamten, Familienmitgliedern, Pfarrern und Kollegen in der Inneren Mission, studierte Briefe und Dokumente. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse erstellte er eine chronologische Liste der Personen und Gruppen, die Opfer des Euthanasieprogramms geworden waren.16 Während der ersten Julihälfte bereitete er drei Entwürfe einer Denkschrift über die streng geheimen Transporte und Morde an behinderten Menschen vor.17 Jedem Entwurf fügte Braune weitere Details bei, manchmal in letzter Minute erhaltene Informationen. Er gliederte seine Denkschrift geographisch, behandelte zunächst frühe Entwicklungen in Württemberg und ging dann über zu dem, was er über Ereignisse und Verfahrensweisen im Land Sachsen,18 den preußischen Provinzen Brandenburg (Berlin eingeschlossen)19 und Pommern20 herausgefunden hatte. Soweit es möglich war, nannte Braune Namen, Adresse und Todesdatum der einzelnen Opfer des Euthanasieprogramms. Außerdem lieferte er Statistiken über die Sterberaten in Grafeneck und Sachsen. In einem abschließenden ethischen und rechtlichen Abschnitt wandte Braune ein, dass das Reichsprogramm zur Tötung von Menschen mit Behinderungen gegen das Sittengesetz verstoße und jeglicher rechtlichen Grundlage entbehre. Am 16. Juli 1940 stellte die Leitung der deutschen evangelischen Kirche die Denkschrift, mit Braune als alleinigem Unterzeichner, der Reichskanzlei zu.

Informationen und Hinweise, die in Braunes Denkschrift einflossen, erreichten ihn über verschiedene Kanäle. Das erste Dokument, das seine Recherchen belegt, ist der bereits erwähnte Brief vom 10. Mai 1940 an seinen engen Freund und Mitstreiter Friedrich von Bodelschwingh. Dort berichtete er u.a. von einem Besuch des Psychiaters Karl Bonhoeffer in seinem Haus in Grunewald am 7. Mai 1940.21 Bonhoeffer verwies Braune an seinen Schwiegersohn Hans von Dohnanyi bei der Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht. Braune traf von Dohnanyi erstmals am 9. Mai 1940 und beschrieb ihn als einen „sehr eifrigen und viel versprechenden Mann.“22 Von Dohnanyi, einer der zentralen Figuren des deutschen Widerstandes gegen Adolf Hitler, versprach, den Reichsjustizminister Franz Gürtner über das Euthanasieprogramm in Kenntnis zu setzen. In Braunes Amtskalender23 ist dieser erste Besuch im Oberkommando der Wehrmacht am 9. Mai 1940 vermerkt. Braune und v. Dohnanyi trafen sich vor der Fertigstellung der Denkschrift noch weitere Male.

Wichtige Fakten lieferten Therese von Helmolt und ihre Kollegin Gertrud Müller von der Inneren Mission in Grimma/Sachsen. Sie besuchten im Mai 1940 Patienten in Waldheim24 und Zschadraß25. Frau v. Helmolt wandte sich nach diesen Besuchen in zwei detaillierten Briefen an Walter Schadeberg, den Leiter des Landesvereins für Innere Mission der ev.-luth. Kirche in Sachsen in Dresden. Schadeberg leitete diese Schreiben in einem Brief vom 8. Juni 1940 an Paul Braune weiter und fügte Abschriften von drei Todesscheinen von sächsischen Heimpatienten bei. Er bat Braune, keinen der Namen zu nennen.26

Weitere Hinweise wurden von der Diakonisse Elisabeth Schwartzkopff, die das Mädchenheim ,Gottesschutz‘ in Erkner leitete, übermittelt. Aus dem Südwesten Deutschlands sendete Helene Zeller, Oberin des Mutterhauses der Kinderschwestern in Karlsruhe/Baden, Anfang Juni emotionsgeladene Briefe sowohl an Elisabeth Schwarzkopff als auch an Paul Braune.27 Ihre Schwester Emma Zeller-Dapp war aus der Württemberger Heilanstalt Weinsberg abtransportiert worden und angeblich in Pirna-Sonnenstein in der Nähe von Dresden am 6. Juni 1940 gestorben.28 Frau Zeller bemühte sich offensichtlich verzweifelt um die Entlassung ihres Bruders Karl, bevor ihm ein ähnliches Schicksal zustoßen würde.29 Sie konnte ihn aus dem Heim in Weinsberg retten.30

Friedrich von Bodelschwingh aus Bethel war in alle Untersuchungen eng eingebunden. Die Korrespondenz zwischen Braune und von Bodelschwingh zeigt u.a., wie sorgfältig sie den Fall eines Mannes, der aus Bedburg-Hau in der Rheinprovinz in das Vernichtungslager von Grafeneck transportiert worden war, dokumentierten.

Weniger bekannt ist die Tatsache, dass gerade bevor Braune die Endfassung seiner Denkschrift fertig gestellt hatte, Pastor Gerhard Ebeling, Leiter der Bekennenden Kirche der Gemeinden Hermsdorf und Frohnau, eine entscheidende Information über den Tod eines ehemaligen Patienten im Heim Berlin-Buch weitergeleitet hatte. Die Beerdigungspredigt, die Ebeling am 17. Juli 1940 hielt, blieb erhalten.31

Im Mai 1940 machte Braune eine Ortsbesichtigung in Brandenburg/Havel, wo er die verdächtig ausschauenden Gebäude an der Neuendorfer Straße sah und später auch Pastor Richard Funke in Brandenburg/Görden am Rande der Stadt konsultierte. Nach dem Besuch informierte Funke Braune brieflich mit einer Skizze der Gebäude, von denen wir heute wissen, dass es sich um eine Vernichtungsstätte handelte.

Ein geheimes Treffen zwischen Braune und dem Leiter der Kückenmühler Anstalten in Stettin/Pommern, Pastor Werner Dicke, ist wahrscheinlich. Während Braune weiter zu Euthanasie recherchierte, wurde diese große Einrichtung mit insgesamt 1.500 Patienten vom Gauleiter Pommerns, Franz Schwede, beschlagnahmt. Die Patienten wurden in eine Reihe anderer Heime verlegt. Als Braune im Juli 1940 die Endfassung seiner Denkschrift fertig stellte, wusste er, dass mindestens 42 dieser Patienten bereits gestorben waren.

Auch innerhalb der Reichsregierung gab es Kräfte, die das Töten der behinderten Menschen nicht befürworteten. Kurt Jacobi im Reichsinnenministerium war ein langjähriger Freund Braunes gewesen. Fritz Ruppert im selben Ministerium war ein beachteter Autor auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege während der Zeit der Weimarer Republik und unter dem Hitlerregime. Ruppert war ein Mitglied der evangelischen Gemeinde in Hermsdorf und seine Frau Maria war eine enge Freundin von Braunes Ehefrau, Berta.32 Höchstwahrscheinlich haben beide Männer Braune brisante Details in Bezug auf das Euthanasieprogramm zukommen lassen, indem sie wichtige Akten auf einem Tisch im Innenministerium liegen ließen und danach den Raum verließen.33

Ein Dokument, das einige Behörden auflistet, die Braune und v. Bodelschwingh besucht haben oder besuchen wollten, ist in dem Archiv der Hoffnungstaler Anstalten in Lobetal erhalten geblieben. Die Namen der folgenden sechs Personen sind aufgeführt „Kritzinger, v. Donany [Dohnanyi], Prof. Göring, Kerrl [. . .], Landeshauptmann Berlin, Ruppert.“34

In Paul Braunes Nachkriegserinnerungen35 und in Paul Braunes Amtskalender von 1940 tauchen weitere Namen auf: Johannes Popitz, Reichsfinanzminister, Franz Gürtner, Reichsjustizminister, Victor Brack (Kanzlei des Führers), Herbert Linden (Reichsinnenministerium).

Zwischen dem 30. April und 9. Mai 1940 sind in Braunes Amtskalender viele Termine eingetragen. Am 10. Mai 1940 konnte Braune in einem Schreiben an Bodelschwingh berichten, „daß drei Chefs orientiert sind und die notwendigen Schritte vornehmen können.“36 Die drei ,Chefs‘ waren höchstwahrscheinlich Franz Gürtner, der Justizminister, Hanns Kerl, der Kirchenminister und Hans-Heinrich Lammers, der Leiter der Reichskanzlei, sowie ein SS-Obergruppenführer.37 Hans von Dohnanyi, Sonderführer im Amt Abwehr im OKW und Schwager Dietrich Bonhoeffers, nahm eine entscheidende Vermittlerposition in Braunes Versuchen ein, die Leiter innerhalb der Regierung zu informieren. Er stattete sowohl Gürtner als auch Ministerialdirektor Friedrich Wilhelm Kritizinger, Sohn eines lutherischen Bischofs und enger Vertrauter von Lammers in der Reichskanzlei, mit Belegmaterial aus.38 Braune und v. Bodelschwingh hofften offensichtlich, dass diese hohen Beamten in der Lage sein würden, das Euthanasieprogramm aufzuhalten.39

Dennoch wird das Einzelgespräch Braunes mit einem Beamten des Innenministeriums gleichzeitig als Warnsignal gedient haben, dass der Kampf gegen die Euthanasie nicht einfach werden würde. Nach dem Krieg erinnert sich Braune:

„Ich machte daraufhin im Reichsinnenministerium einen Besuch bei einem mir bekannten Sachbearbeiter. Er war entsetzt, wie offen ich über diese Dinge sprach, die dort nur als strengste Geheimsache behandelt wurden. Er machte mich darauf aufmerksam, daß ich mit meinem Leben spiele, wenn ich mich weiter mit dieser Angelegenheit befasse. Es sei genau so, als wenn ich mich vor eine Dampfwalze legen wolle, um sie aufzuhalten.“40

Bei anderer Gelegenheit trafen sich Braune und v. Bodelschwingh mit Herbert Linden vom Innenministerium und Victor Brack aus der Kanzlei des Führers. Diese Männer waren zwei der Hauptakteure des Euthanasieprogramms. Nach dem Krieg erinnert sich Braune noch lebhaft an das Wortgefecht:

„So gingen wir beide unter der ganzen Last der Verantwortung zu den Sachbearbeitern des Reichsinnenministeriums, die die Hauptverantwortung für diese Mordunternehmungen trugen. Es waren die Ministerialräte Linden und Brack. Die Unterredung verlief sehr temperamentvoll, indem wir beiden Herren offen sagten, daß wir die Hintergründe der ‚Verlegungen‘ kannten und daß wir mit aller Entschiedenheit als Staatbürger und Christen dagegen protestierten.[…]

Man versuchte in der Unterredung zunächst noch in umgänglicher Form uns aufzuklären, daß wir uns in einem schrecklichen Irrtum befänden. Wenn Kranke verlegt würden, dann sei das eine kriegsbedingte Angelegenheit. Es seien ja ‚Schauermärchen‘, die wir verbreiteten, wenn wir von absichtlicher Tötung der Kranken redeten. Schließlich drohte man uns mit der Staatspolizei. Diese Drohung wurde ruhig und fest abgelehnt. Man war offenbar in Sorge um die Volksstimmung. Es mußte in der damaligen Kriegszeit ja die öffentliche Meinung belasten und vor allem die Maßnahmen hindern, daß wir über die Dinge zu offen sprachen. Mit oft sarkastischen und ironischen Bemerkungen wurde es abgetan, wenn wir die Sinnlosigkeit der Verlegung der Kranken immer wieder aufzeigten. Die Raumeinsparung, so wurde es uns immer wieder entgegnet, sei der einzige Zweck dieser Verlegungen.[…] Wir bewiesen unsererseits immer wieder, daß wir völlig Wissende seien und daß mit einer einfachen Verlegung hier wirklich kein wehrpolitischer Erfolg erreicht werden könne. Die ganze Verlegung habe eben nur den Sinn, die Kranken von ihren Angehörigen zu trennen, ebenso von dem Pflegepersonal, das sie persönlich kannte, damit sie in der zweiten oder dritten Station als namenlose Masse den Gaskammern oder den Spritzen der Ärzten überliefert würden. Der Protest bei den genannten Herren hatte natürlich keinen Erfolg.“41

Über einige Menschen, die den Krankenmorden zum Opfer fielen und in Braunes Denkschrift aufgeführt sind, wird im Folgenden – auch unter Einbeziehung von Fakten, die Braune nicht kannte – berichtet. Diese umfänglichen Bemerkungen leisten einen Beitrag zur notwendigen Entanonymisierung der Krankenmorde im Nationalsozialismus und zeigen, wie leicht Menschen in das Fadenkreuz der Euthanasie geraten konnten.

Else Lemmé wird nur im dritten und damit letzten Entwurf der Denkschrift erwähnt. Braune scheint über ihren Fall erst in aller letzter Minute erfahren zu haben – vielleicht per Telefon. Das mag erklären, warum er ihren Familiennamen falsch geschrieben hat. In der Denkschrift wird sie als Else Lemmé aufgelistet, zuletzt wohnhaft in der Sachsenwaldstrasse 16 in Berlin-Steglitz.

Else Lemmés Patientenakte ist in der Zweigstelle des Bundesarchivs in Berlin erhalten42. Aus diesem Dokument erfahren wir, dass Frau Lemmé am 10. September 1906 in Odessa geboren wurde. Die Familie verließ Odessa um 1912 und lebte dann an verschiedenen Orten in Deutschland – Berlin, Warnemünde, Benzheim an der Bergstrasse und Stettin. Frau Lemmé hatte zwei ältere Schwestern. 1925 starb ihr Vater im Alter von 46 Jahren. Zu dieser Zeit war Frau Lemmé etwa 16 Jahre alt. Sie besuchte das Lyceum in Stettin. Danach wurde sie als technische Assistentin in Berlin ausgebildet. 1928, im Alter von etwa 19 Jahren, bekam sie Symptome von Angina und Neuritis. Sie verlor an Gewicht und hatte Schwierigkeiten eine Arbeit zu finden. Während sie stellungslos war, arbeitete sie als Freiwillige in verschiedenen Berliner Krankenhäusern.

Von 1929 bis 1933, über vier Jahre, wurde Frau Lemmé von rechtsseitigen Schmerzen heimgesucht. Sie schlief wenig, weinte viel und wurde nahezu apathisch. Ihre Mutter und ihre Schwester versuchten, Hilfe für sie zu finden. Zwischen April 1933 und Dezember 1934 wurde Frau Lemmé dreimal in die Kuranstalten Westend in Berlin, eine geschlossene Einrichtung, eingeliefert. Zwischen diesen Einlieferungen im Mai 1934 kam es zu einer Krise, als Frau Lemmé von einer Arbeit als Schreibhilfe entlassen worden war. Während ihres letzten Aufenthaltes vom September 1934 bis zum Dezember 1934 wurde bei Frau Lemmé Schizophrenie diagnostiziert.

Im Dezember 1934 oder Anfang Januar 1935 reiste Frau Lemmé mit ihrer Mutter, wahrscheinlich per Zug, in den Südwesten Deutschlands. Die Mutter wollte Else in einer ländlichen Einrichtung namens Volkertshausen – eventuell ein Erholungsheim – unterbringen. Die Einrichtung lehnte aber die Aufnahme mit der Begründung ab, Frau Lemmé sei zu ,lebendig‘. Kurz darauf kam es zu einer Szene in Stuttgart, bei der die Tochter durch die Straßen lief. Am nächsten Tag in Singen erlitt Frau Lemmé einen ernsthaften emotionalen Ausbruch, wovon sie nur von einem Arzt mittels einer Injektion von Dilaudid Scopolamin beruhigt werden konnte. Am 7. Januar 1935 wurde Frau Lemmé dann in die Badische Heil- und Pflegeanstalt bei Konstanz eingeliefert. Die Mutter blieb mit ihrer jüdischen Schwägerin – Maria Lemmé – bis zum 17. Januar 1935 in Stuttgart-Degerloch.

Frau Lemmé war vom Januar 1935 bis zum Juni 1940 Patientin in Konstanz. Ihre Krankenakte weist keine signifikanten Verschlechterungen ihrer psychischen Gesundheit zwischen 1935 und 1940 auf. Auf der ersten Seite ihrer Patientenakte ist der 17. Juni 1940 als ihr ,Abgangstag‘ vermerkt. Auf der letzten Seite ihrer Akte stehen die verhängnisvollen Worte ,Heute per Sammeltransport nach Zwiefalten verlegt‘. Wenn Frau Lemmé tatsächlich in die Württembergische ,Staats-Irrenanstalt‘ Zwiefalten gebracht worden war, so war diese Einrichtung nur eine Zwischenstation auf dem Wege nach Grafeneck.

Laut Paul Braunes Denkschrift starb Frau Lemmé am 28. Juni 1940 in Grafeneck. Die Urne, die ihre Asche beinhaltete, trug die Nummer A 3111. Weniger als drei Wochen nach dem angegebenen Todesdatum fand der Fall Else Lemmé Eingang in die Endfassung der Denkschrift Paul Braunes.

Kurt H. wurde im Juni 1890 geboren. Er war im Mai 1940 Patient des sächsischen Heims Waldheim. Wir wissen von seiner Geschichte aus der Patientenakte, die in der Zweigstelle des Bundesarchivs in Berlin erhalten ist und dem Brief der Sozialarbeiterin Theresa von Helmolt aus Grimma, der sich im Archiv der Hoffnungstaler Anstalten befindet. Sie schildert detailliert den Besuch ihrer Kollegin Gertrud Müller bei ihrem Mündel Herrn H. am 7. Mai:

„Bei meinem Besuch in Waldheim wurde mit dem Mündel Kurt [H.] Rücksprache genommen und zwar im Beisein des Pflegers. Er erzählte mir gleich, daß es ihm in Waldheim nicht so gut gefalle, wie in Hubertusburg. Das Essen sei sehr wenig, er habe immer Hunger. Sie bekämen hier morgens nur 1 Schnitte (in Hubertusburg 3 Schnitten) mittags einen Teller Essen und abends einen Teller Suppe. Der Pfleger, der gefragt wurde, ob das stimme, mußte es zugeben. Er meinte, die Bestimmungen seien hier überhaupt strenger als in Hubertusburg; sogenannte Freigänger gebe es hier nicht. Deshalb sei auch [H.] etwas schwierig, er sei hartnäckig. Nun habe er jetzt 7 Tage Arrest bekommen. Erschütternd war, wie Kurt [H.] während des Erzählens plötzlich still wurde, weil er die Glocken hörte, die zu einem Begräbnis geläutet wurden. Er zeigte mir seine 5 Finger und meinte: So viele Male hat es heute schon geläutet und er wurde ganz traurig. Man merkte, daß er den Grund des Läutens wußte.“43

Theresa v. Helmolt, Herrn H’s. langjähriger Vormund, fügte dem Bericht von Frau Müller folgenden Kommentar hinzu:

„Kurt [H.] war in Hubertusburg in sehr gutem kräftigen Gesundheitszustand. Er gab sich ziemlich geordnet, sodaß ihm ein Amt – Botengänge und dergl. – übertragen werden konnten. Den Verdienst, den er dafür erhielt (kleine Trinkgelder) durfte er für sich verwenden; gewöhnlich kaufte er sich Tabak. Über dieses Geld führte er ganz genau Buch, wie überhaupt seine auffallendste Eigenschaften Ordnung, Gewissenhaftigkeit und Zahlengedächtnis waren. Der Anstaltspfarrer in Hubertusburg hatte sich seiner immer besonders angenommen und ihn auch zu gelegentlichen Hilfsdiensten herangezogen. Wenn der Pfleger in Waldheim jetzt von ihm berichtet, daß er schwierig und hartnäckig sei, so erklärt sich das einfach aus dieser im Vergleich zu Hubertusbug ganz entgegengesetzten Behandlung.“44

Die Patientenakte von Herrn H. mit dem Einlieferungsdatum 3. April 1911 enthält weitere wichtige Informationen über ihn.45 Herr H. wurde in Grimma geboren, der Stadt, in der sich das örtliche Fürsorgebüro der Inneren Mission von Frau Helmolt und Frau Müller befand. 1911, als er noch nicht 21 war, wurde Herr H. in das Heim Hubertusburg eingeliefert. Diagnose: ,Imbecilität‘. Sein Einlieferungsformular aus Hubertusburg besagte, dass er ein uneheliches Kind war. Zwischen dem 5. und 16. Lebensjahr war er Bewohner des Heimes in Großhennersdorf, einer Einrichtung für „bildungsunfähige schwachsinnige Kinder“.46 Zwischen 1906 und 1911 war er Bewohner der Bezirksanstalt Grimma und lebte in Hubertusburg. Seine Einlieferungsakte besagt, dass er eine Gefahr für andere Menschen darstellte, allerdings kann man keine Hinweise auf kriminelles Verhalten in seiner Krankheitsgeschichte finden. Die deutlichste Zusammenfassung von Herrn H.’s Zustand kann man in einer Aktennotiz von Hubertusburg an das Amtsgericht in Leipzig finden, die auf den 12.10.1936 datiert ist:

„Auf die dortige Anfrage vom 9. 10. 36 wird mitgeteilt, daß der am 16. 6. 1890 in Grimma geborene, wegen Geisteskrankheit entmündigte berufslose Paul Kurt [H.] sich seit dem 3. April 1911 in der hiesigen Anstalt in Behandlung befindet. Der Kranke lebt noch, sein Zustand hat sich in keiner Weise geändert, es handelt sich um einen angeborenen Schwachsinn schweren Grades.

Anstaltsdirektion.

I.A.

[Unterschrift]“47

Herrn H’s. Akte beinhaltet die Korrespondenz zwischen Therese v. Helmolt und dem Büro des Direktors von Hubertusburg aus dem Jahr 1937. Frau v. Helmolt aus dem Büro der Inneren Mission in Grimma war es nicht gelungen, die Mutter von Herrn H. ausfindig zu machen. Deshalb fragte sie in Hubertusburg nach Informationen. Frau v. Helmolt stellte sich vor als Herrn H’s. Vormund. Das Büro des Direktors gab ihr die letzte bekannte Adresse der Mutter des Patienten und fügte hinzu, „[da] sich die Mutter um H. nicht kümmert, ist hier nicht bekannt, ob die vorstehenden Angaben noch zutreffen.“48 Die letzten handschriftlichen Eintragungen über Herrn [H]’s. Aufenthalt in Hubertusburg waren auf den 27. Februar 1940 datiert. Sie lauten wie folgt: „Hat ab und zu Nörgelein über Mitkranke und Pfleger. Fleissiger Botengänger. Zur Verkalkung keine Änderung. Zu letzter Zeit Streit mit Mitpatienten.“49

Der nächste Eintrag in Herrn [H]’s. Akte war der Stempelaufdruck „Mit Sammeltransport n. Waldheim“.50 Das Datum dieses Eintrags war der 18. April 1940. Laut der Historikerin Sonja Schröter war der 18. April der Tag, an dem 434 männliche Patienten von Hubertusburg nach Waldheim abtransportiert worden waren. Waldheim war ein kleines sächsisches Heim mit einer Maximalkapazität von 260 Patienten.51 Ende April 1940 waren alle Patienten aus Hubertusburg weg, um Raum für „eine Unteroffiziersschule der Luftwaffe und ein Lager für ,heim ins Reich‘ geholte ,volksdeutsche‘ Umsiedler“52 zu schaffen.

Einen Monat nach dieser Überführung besuchte Frau Gertrud Müller Herrn H. in seinem neuen Heim und hörte von seinen Bedenken über die Zahl der Todesfälle, die um ihn herum auftraten und über die strikten Verhaltensvorschriften in Waldheim. Vier Wochen und einen Tag nach dieser Unterhaltung wurde Herr H. erneut verlegt. Die letzte Eintragung in seiner Patientenakte ist eine weitere gestempelte Notiz: „[A]m 29.5.40 von Heil- u. Pflegeanstalt Waldheim mit Sammeltransport verlegt.“53 Am 29. Mai 1940 wurden Herr H. und eine unbekannte Anzahl anderer Heimbewohner in die Tötungsanstalt im Zentrum von Brandenburg/Havel gebracht und mit Kohlenmonoxyd vergast.

Friedrich Heiner

Es gibt verschiedene andere Patienten, über die Paul Braune eine beträchtliche Anzahl an Informationen erhalten hat. Braune und v. Bodelschwingh korrespondierten über einen Patienten namens Friedrich Heiner, der im September 1938 in das Heim Bedburg-Hau in der Rheinprovinz eingeliefert worden war.54 Aufgrund der Recherchen von Ludwig Hermeler wissen wir, dass zwischen dem 5. und dem 8. März 1940 1.742 Bedburg-Hau Patienten in andere Einrichtungen verlegt worden waren, um Platz für ein Marinereservelazarett zu schaffen.55 Was Paul Braune über Herrn Heiners Fall wusste, war in einem unveröffentlichten Überblick zusammengefasst, der während der Monate Mai, Juni und Juli 1940 zusammengestellt wurde.

„Etwa Anfang März wurde Herr Heiner, der frühere Leiter des Kraftwerkes der Kreu[z]nacher Anstalten, der wegen Depressionen nach einer Typhuserkrankung in der Anstalt Bedburg[-]Hau untergebracht war, von dort in die Pflegeanstalt Grafeneck verlegt, ohne Benachrichtigung der Familie, die die Kosten trug. Eine nach Grafeneck von der Familie gerichtete Anfrage über das Befinden blieb unbeantwortet, bis nach ca[.] 4 Wochen ein kurzer Bescheid kam, der Kranke sei an Kreislaufschwäche gestorben und mußte sogleich eingeäschert werden, die Urne stehe zur Verfügung. Letztere hat die Nummer: A 498.“56

Ein Brief vom 19. Juni 1940 von v. Bodelschwingh an Braune bezüglich dieses Falles ist erhalten geblieben. Von Bodelschwingh war der Überzeugung, dass Herr Heiner keines natürlichen Todes gestorben war. Herr Heiners Sohn war offensichtlich in einem Schreiben darüber informiert worden, dass sein Vater am 7. März 1940 von Bedburg-Hau nach Grafeneck transportiert worden war – „auf ministerielle Anregung, gemäß Weisung des Reichsverteidigungskommisars“.57 Der Sohn hatte auf diesen ersten Brief mit einem Anfrageschreiben reagiert, das auf den 27. März 1940 datiert war. Am 11. April 1940 sandte Grafeneck ein Kondolenzschreiben an den Sohn, in dem sie den Tod Herrn Heiners am 10. April 1940 bedauerten. Laut v. Bodelschwingh bekundete das Heim seine Trauer darüber „in einem durchaus persönlichen und warmherzigen Brief.“58 Der Arzt aus Grafeneck erklärte Herrn Heiners Tod mit den folgenden Worten: der Patient starb „infolge Grippe mit anschließender Herz- und Kreislaufschwäche.“59 Von Bodelschwingh gab im Weiteren den Inhalt des Briefes aus Grafeneck vom 11. April 1940 wieder, der eine Entschuldigung für die verspätete Antwort des Heims auf das frühere Anfrageschreiben des Sohnes beinhaltete. Es folgt der Satz:

„Die im Verlauf der an sich nicht schweren Grippeerkrankung eintretende Herz- und Kreislaufschwäche war trotz aller unserer ärztlichen Bemühungen nicht aufzuhalten. Er ist sanft und schmerzlos entschlafen. Auf Anordnung der Polizeibehörde musste aus [handschriftliche Einfügung unleserlich] polizeilichen Erwägungen heraus der Verstorbene sofort eingeäschert werden. Es folgt die Mitteilung über die Urne und am Schluss eine Entschuldigung, dass die Anfrage der Familie vom 27. März ,infolge Überlastung unseres Anstaltbetriebes durch dauernde, aus oben erwähnten Gründen erfolgende Verlegungen noch nicht beantwortet werden konnte.‘ Der Verstorbene habe die Fahrt nach Grafeneck gut überstanden und sich auch an die neue Umgebung gewöhnt“.60

Offenbar auf Anraten v. Bodelschwinghs bat der Sohn im Anschluss an das Kondolenzschreiben vom 11. April 1940 um detailliertere Informationen. Die Antwort auf die zweite Anfrage war angeblich von einem Dr. Keller am 15. Juni 1940 verfasst worden. Ich zitiere wieder aus v. Bodelschwinghs Brief an Braune vom 19. Juni 1940:

„Jetzt hat der Sohn von hier aus erneut in Grafeneck angefragt und bekam von dem leitenden Arzt Dr. Keller die Auskunft, dass ‚auf Ordnung der Polizei Ihr Vater sofort nach seinem Tode eingeäschert werden musste, da zur Zeit in der Landespflegeanstalt Seuchengefahr besteht. Wir mussten uns also dieser Anordnung fügen, obwohl Ihr Vater selbst nicht an einer Seuche erkrankt war.‘“61

Es folgt eine neue Entschuldigung wegen der Verzögerung mit der Begründung:

„Da wir zur Zeit mit Arbeit derart überlastet sind, dass wir uns im Interesse der uns anvertrauten Kranken nur der Pflege der Patienten widmen, sind wir gezwungen, bei dem derzeitigen Personalmangel die schriftlichen Arbeiten etwas zurückzustellen.“62

Am Ende des Briefes an Braune vermerkte v. Bodelschwingh, dass die Nummer A 498 sowohl auf dem zweiten Schreiben aus Grafeneck als auch auf dem Paket mit der Urne, die die Asche von Herrn Heiner beinhaltete und an seinen Sohn geschickt worden war, stand. Der Brief und die Urne waren allerdings von zwei verschiedenen Postämtern abgeschickt worden. Von Bodelschwingh vermutete eindeutig falsches Spiel.63

Das Ausmaß, in dem sich manche Familien um das Schicksal ihrer Angehörigen sorgten und versuchten, diese zu retten, wird nicht nur aus Herrn Heiners Fall ersichtlich, sondern auch aus drei anderen Fällen, von denen Paul Braune detaillierte Kenntnisse hatte.

Lieselotte Grober, 30 Jahre alt, war Patientin der Samariteranstalten in Ketschendorff bei Fürstenwald/Spree. Am 29. April 1940 wurde Frau Grober aus diesem Heim an einen unbekannten Bestimmungsort abtransportiert. Braune vermerkte in seinem Überblick: „Sie leidet an Schwachsinn starken Grades.“64 Als ihre Eltern herausfanden, dass ihre Tochter aus den Samariteranstalten entfernt worden war, leiteten sie eine intensive Suche ein. In seiner Denkschrift beschreibt Braune die Bemühungen der Eltern anonym:

„In einem anderen Falle haben die Eltern alles daran gesetzt, den Aufenthalt ihres Kindes ausfindig zu machen und haben es dann in Brandenburg-Görden entdeckt. Sie fanden das Kind bereits bei ihrem zweiten Besuch völlig verdreckt und elend vor. Auf die Bitte, das Kind wieder in die Samariteranstalten zurückzuverlegen, wurde ihnen gesagt, daß das gar nicht in Frage käme. Auch weitere Erleichterungen und Gegenstände zur Freude durften dem Kinde nicht mehr gebracht werden, das sei zur Zeit alles völlig unmöglich.“65

Laut der Historikerin Beatrice Falk konnten die Eltern letztlich ihre Tochter vor einer weiteren Überführung von Brandenburg-Görden in eine Tötungsanstalt bewahren.66 Emmi Heberlein, die am selben Tag wie Frau Grober aus den Samariteranstalten abtransportiert wurde, hatte nicht so viel Glück. Braune schreibt, dass Frau Heberleins Tod am 6. Juni 1940 eintrat. Er fügte hinzu, dass sowohl Frau Grober als auch Frau Heberlein in ihren Heimatanstalten gesund gewesen seien.67

Günther Rottmann

Unmittelbar vor Fertigstellung der Denkschrift, zwischen dem 4. und dem 9. Juli 1940, erfuhr Paul Braune von dem Tod Günther Rottmanns, dessen Vater, Alfred, Oberregierungsrat in Berlin war.68 Die Quelle für Braunes Informationen über Rottman war der Pastor der Bekennenden Gemeinden in Hermsdorf und Frohnau, Gerhard Ebeling. Wir sind im Besitz eines ungewöhnlich umfangreichen Quellenmaterials im Falle Günther Rottmann. Seine Patientenakte ist in der Zweigstelle des Bundesarchivs in Berlin erhalten. Zwei Briefe von der Einrichtung Hartheim und ein beigelegter Bericht von Pastor Ebeling vom 9. Juli 1940 sind im Archiv der Hoffnungstaler Anstalten vorhanden. Zudem berichtet Ebeling detailliert von dem Tod von Herrn Rottmann in einem Buch von 1995. Letztlich gibt es auch juristische Dokumente, den unerwarteten Tod von Herrn Rottmann betreffend.

In dem Buch, Predigten eines ,Illegalen‘ schreibt Ebeling, er habe am 27. Juni 1940 einen Telefonanruf von Herrn Rottmanns Eltern, die nicht Mitglieder seiner Gemeinde waren, erhalten. Die Rottmanns erzählten, dass ihr Sohn Günther ohne ihr näheres Wissen aus dem städtischen Heim in Berlin-Buch am 10. Juni abtransportiert worden war.69 Der Sohn, Günther Rottmann (geboren 6. Dezember 1906) wurde als Jurist ausgebildet. Er wurde wegen Geisteskrankheit von 1929-1930 im Charité Krankenhaus (Sanatorium Heidehaus) und 1934 in der Marienthal Anstalt bei Münster in Westfalen behandelt. 1937 wurde er erneut für sechs Monate in die Heil- und Pflegeanstalt Wittenau eingeliefert. Seine Diagnose war unklar, vermutlich handelte es sich um Psychopathie oder Schizophrenie. Gelegentlich waren die Zusammentreffen mit seinem Vater provokativ oder gar gewalttätig. Nach verschiedenen kleineren Problemen mit Justizbehörden in den 1930ern wurde Herr Rottmann im September 1938 von einem Berliner Gericht für schuldig befunden, mehrere Straftaten begangen zu haben: Bei diesen angeblichen Straftaten handelte es sich um ,Beihilfe zum schweren Raub, fortgesetzten schweren Diebstahl, einfachen Diebstahl in zwei weiteren Fällen, sowie unbefugten Waffenbesitzes‘. Er wurde zu einem Jahr und zwei Monaten Haft verurteilt. Nachdem er seine Zeit in den Gefängnissen in Moabit und Tegel abgesessen hatte, wurde Günther Rottman am 01.03.1939 als kriminaltechnischer Patient in die städtische Heil- und Pflegeanstalt Berlin-Buch überwiesen. In seiner Krankengeschichte ist vermerkt, dass Herrn Rottmann ein schwieriger Patient sei, der das Pflegepersonal einmal im Juni 1939 körperlich attackiert habe. Laut seiner Familie soll Herr Rottmann aber in den Wochen vor dem Juni 1940 zunehmend Zeichen von Besserung gezeigt haben.70

Aus Ebelings Bericht vom 9. Juli 1940 geht hervor, dass die Eltern Herrn Rottmann zweimal die Woche in Berlin-Buch besuchten. Seine Mutter, Klara Rottmann, hatte ihren Sohn am Sonntag, den 9. Juni 1940 besucht. Sie erfuhr von ihrem Sohn, dass es Gerüchte gebe, die besagten, dass er bald an einen anderen Ort abtransportiert werden würde. Als die Mutter ihren Sohn am Dienstag, den 11. Juni 1940 wieder besuchen wollte, wurde ihr mitgeteilt, dass er nicht mehr im Heim sei und dass die Leitung der Einrichtung Berlin-Buch nicht wisse, wo er hingebracht worden sei. Im Kontrollbuch des Heims war neben den Namen ihres Sohnes lediglich das Wort ,unbekannt‘ vermerkt.71 Laut Ebelings Bericht vom 9. Juli 1940 „wandten sich [die Eltern] daraufhin nicht nur an die Direktion [der Anstalt] und die Polizei in Buch, sondern auch schriftlich an das Justizministerium, an die Generalstaatsanwaltschaft, an die Vermisstenzentrale, an das Einwohnermeldeamt und an das Hauptgesundheitsamt, bisher ohne jede Antwort zu erhalten.“72

Während die Eltern auf weitere Nachrichten über die Gesundheit ihres Sohnes warteten, wurden sie am 26. Juni 1940 von Frau Agnes Conrad informiert, dass Frau Conrads Sohn Werner in Hartheim verstorben sei.73 Diese Nachricht war besonders beängstigend für die Eltern, weil Herr Conrad am selben Tag aus Berlin-Buch abtransportiert worden war wie Günther Rottmann. Die Rottmanns meldeten sofort ein Ferngespräch zu dem Heim in Hartheim an. Zwei Stunden später erreichten sie schließlich den Heimdirektor. Ja, teilte ihnen der Direktor mit, ihr Sohn sei sicher in Hartheim angekommen. Unglücklicherweise sei er jedoch schon am 23. Juni 1940 verstorben. Eine schriftliche Mitteilung über die Krankheit und den Tod ihres Sohnes sei bereits unterwegs. Eine Anfrage der Eltern bezüglich Überführung des Leichnams wurde abgelehnt, da die sterblichen Überreste ihres Sohnes bereits eingeäschert worden seien.74

Das standardisierte Kondolenzschreiben, was angeblich von Hartheim aus abgeschickt worden war, war auf den 24. Juni 1940 datiert. Das Schreiben besagte, dass „[ihr] Sohn [...] unerwartet am 23. Juni 1940 infolge Mittelohrvereiterung verstorben ist. Eine ärztliche Hilfe war leider nicht mehr möglich.“75 Dieses Schreiben bewirkte nur weiteren Unmut auf Seiten der Eltern Günther Rottmanns. Der Brief des Oberregierungsrates Rottmann vom 1. Juli 1940 blieb nicht erhalten, doch er muss überaus hart gewesen sein. Die verteidigende Antwort aus Hartheim vom 9. Juli 1940 beinhaltete Erklärungen und eine Drohung:

„Ihr Sohn [wurde] mit anderen Kranken zusammen als seuchenverdächtig hier eingeliefert. […] Daß hier in der Anstalt mehrfach Todesfälle zu verzeichnen [sind]76, wird nicht bestritten. Diese Tatsache ist aber weder auf Vergiftung noch auf andere Umstände zurückzuführen, sondern eben darauf, daß in unserer Anstalt nur Kranke und größtenteils Schwerkranke untergebracht sind. […]

Im Übrigen müssen wir es uns versagen, auf Ihr Schreiben näher einzugehen und wollen es dem Leiter der Anstalt, der zurzeit verreist und nicht erreichbar ist, überlassen, welche77 Schritte oder Maßnahmen er wegen der Beleidigungen und Ehrverletzungen wie sie durch Ton und Inhalt Ihres Schreibens gegeben sind, ergreifen will.

Heil Hitler!

[Unterschrift]“78

Alfred Rottmann war davon nicht eingeschüchtert. Als Mitglied der NSDAP seit 1927 war er außer sich über den Tod seines 33-jährigen Sohnes.79 Am 9. Oktober 1940 erhielt Oberstaatsanwalt Ferdinand Eypeltauer in Linz eine förmliche Rechtsbeschwerde von der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Wels in Österreich. Der Inhalt des Berichts über das Beschwerdeschreiben Alfred Rottmanns blieb erhalten.

„Alfred Rottmann hat in Berlin Anzeige erstattet, daß sein Sohn Günther Rottmann, der sich über gerichtlichte Anordnung in der Heil- und Pflegeanstalt in Buch befand, nach Hartheim überführt wurde und dort plötzlich gestorben sei. Rottmann behauptet in seiner Anzeige, daß er hörte, es seien auch andere Insassen der Anstalt Hartheim plötzlich verstorben, er habe daher den Verdacht, daß sein Sohn nicht eines natürlichen Todes gestorben sei.“80

Die darauf folgende juristische Korrespondenz enthüllte, dass Georgo Renno der fragliche Arzt in Hartheim im Falle Günther Rottmanns war und dass dieser Fall bis in die höchsten Ebenen der Reichsregierung führte, nämlich zu Victor Brack in der Kanzlei des Führers und Herbert Linden im Reichsinnenministerium. Die heiklen rechtlichen Vorgehensweisen dauerten fast ein Jahr, bis zum 24. September 1941. An diesem Tag lautete eine Depesche lediglich: „Ich bitte, der vom Oberstaatsanwalt [in Wels] […] beabsichtigte Sachbehandlung nicht entgegenzutreten.“81

Paul Braune erwähnte Günther Rottmann in seiner Denkschrift mit dem Hinweis, dass er Jurist gewesen sei und in das Heim in Berlin-Buch 1939 „wegen Überarbeitung und Nervenzusammenbruch“82 eingewiesen worden war. Er schrieb auch von den energischen Versuchen der Eltern, ihren Sohn ausfindig zu machen. Laut Braune ähnelte das Kondolenzschreiben aus Hartheim eindeutig anderen Hartheim-Briefen, die andere Familien in Berlin erhalten hatten. Am 17. Juli 1940 gedachte Gerhard Ebeling Günther Rottmanns in einer Predigt bei einer Urnenbeisetzung in Berlin-Hermsdorf. Der Titel dieser Predigt lautete „daß ihr nicht jemand von diesen Kleinen verachtet! (Matthäus 18:10)“.83

Dank der genauen Recherchen Horst-Peter Wolffs wissen wir, dass Günther Rottmann und Werner Conrad zwei von 57 männlichen Patienten waren, die von Berlin-Buch am 10. Juni 1940 in die Tötungsanstalt Brandenburg/Havel (also nicht Hartheim) transportiert worden waren. Dies war der sechste Transport aus Berlin-Buch.84 Die vielen Lügen der Euthanasietäter beinhalteten auch Falschaussagen über die Orte, an denen die Opfer gestorben waren.85

Emma Zeller-Dapp war die Schwester der Oberin Helene Zeller aus Karlsruhe. Sie schrieb Ende Juni und Anfang Juli 1940 beunruhigte Briefe aus Karlsruhe nach Berlin. Ihre Schwester Emma war am 4. Juni 1940 angeblich mit 63 anderen Patienten aus der Staatlichen Heilanstalt für Geisteskranke in Weinsberg/Württemberg an einen anderen Ort transportiert worden. Ein Brief vom 22. Juni 1940, angeblich aus Pirna-Sonnenstein, erfüllte die ,traurige Pflicht‘, Helene Zeller über den Tod ihrer Schwester am 21. Juni 1940 zu informieren. Die Todesursache war angeblich „Folgen eines chronischen Herzklappenfehlers mit eintretender Herzmuskelschwäche.“86 Der Brief war unterzeichnet von „Dr. Blume.“87

Paul Braune vermerkte den Tod Emma Zeller-Dapps in seinem Überblick anonym. Ihr Name war als letzter auf der Liste aufgeführt.

„Eine Pfarrerswitwe […] die wegen Psychopathie 8 Jahre auf Kosten der Angehörigen in der Anstalt Weinsberg war, wurde von dort in die Anstalt Sonnenstein in Sachsen verlegt, wo sie plötzlich verstarb. Die Leiche wurde sofort eingeäschert. Die Todesmeldung an die Angehörigen erfolgte in der üblichen Form.“88

Einer von Emma Zeller-Dapps Enkelkindern, Hans-Ulrich Dapp, verfasste eine bewegende Erzählung über das Leben und den Tod seiner Großmutter.89

Braune fasste die verschiedenen Informationen und Fallgeschichten einzelner Euthanasieopfer zu einem beeindruckend präzisen und komplexen Bild der organisierten Tötung behinderter Menschen zusammen. Er identifizierte die ersten beiden Tötungsanstalten, Grafeneck und Brandenburg/Havel. Dort war mit den Tötungen im Januar bzw. im Februar 1940 begonnen worden. Außerdem wusste er, dass einige Patienten angeblich in der dritten funktionierenden Tötungsanstalt, Hartheim90 bei Linz in Österreich, gestorben waren und dass ein Patient laut Bericht in einer vierten Tötungsanstalt, Pirna-Sonnenstein, getötet worden war. Des Weiteren war er gut informiert über die Verlegungen aus zwei kommunalen Heil- und Pflegeanstalten in Pommern, Stralsund und Lauenburg sowie die Beschlagnahme der Kückenmühler Anstalten bei Stettin – einer Einrichtung der Inneren Mission – und den Abtransport der dortigen Bewohner und Bewohnerinnen.91 Braune hat richtig herausgefunden, dass die Todesursachen und die Gründe für die Einäscherungen der Leichen reine Erfindungen waren. Er war im Besitz genauer Informationen über die Fälle und/oder Tode von 22 Patienten und etwa vier Gruppentransporten. Das vielleicht Erstaunlichste ist Braunes Wissen über die genauen Sterblichkeitsraten in den sächsischen Heimen über den Zeitraum der vorangegangenen zwei Jahre. Zuletzt war es Braune gelungen, über ein Ausschlussverfahren herauszufinden, dass Victor Brack und Herbert Linden zwei der wichtigsten Verantwortlichen des Euthanasieprogramms waren.

In Braunes Denkschrift finden sich dagegen keine Angaben über Transporte aus Südbayern, bzw. aus dem Eglfing-Haar Heim. Von Entwicklungen in Österreich im Mai und Juni 1940 ist nur aus Verweisen auf den (vermutlichen) Tod eines Patienten in Hartheim bekannt. Braune scheint auch nichts von den Ermordungen polnischer Patienten im Herbst 1939 und Anfang 1940 auf polnischem Gebiet – nach dem Überfall unter deutscher Besatzung – gewusst zu haben.92 Außerdem erwähnte Braune auch keine Transporte aus katholischen Heimen. Schließlich scheint Braune nicht gewusst zu haben, dass Gaskammern verwendet wurden, um die Patienten zu töten. Er vermutete, dass tödliche Injektionen, mündliche Verabreichungen von Medikamenten oder der Hungertod die eingesetzten Tötungsmethoden des Euthanasieprogramms waren.

Am 16. Juli 1940 war Braunes Denkschrift von dem Geistlichen Vertrauensrat der Deutschen Evangelischen Kirche an die Reichskanzlei weitergeleitet worden.93 Weniger als einen Monat später, am 12. August 1940, erschienen vier Gestapobeamte um sechs Uhr morgens vor Braunes Haus in Lobetal. Das Haus wurde durchsucht und Braune selbst wurde von den Beamten in das Gefängnis in der Prinz-Albrechtstraße gebracht. Er erfuhr später, dass er auf Befehl von Reinhard Heydrich inhaftiert worden war. Der Schutzhaftbefehl lautet wie folgt: „Pastor Braune ist in Schutzhaft genommen, weil er Maßnahmen des Staates in unverantwortlicher Weise sabotiert hat. Unterschrift: Heydrich.“94

Paul Braunes Name kam auf die Fürbittenliste der Bekennenden Kirche.95 Es war nicht klar, ob er freigelassen oder in ein Konzentrationslager geschickt werden würde. Erst am 31. Oktober 1940 kam er, nicht zuletzt dank der Fürsprache v. Bodelschwinghs, frei.

Braune und v. Bodelschwingh waren in der Lage nahezu alle ihre Patienten zu retten, mit Ausnahme einer kleinen Anzahl jüdischer Patienten. Sie wurden gezwungen, diese entweder in eine jüdische Sammelanstalt oder in Ghettos im Osten zu schicken96.

Bezogen auf das Reich steht Braunes Denkschrift als bedeutender Akt protestantischen Widerstandes gegen die Euthanasie am Anfang der Aktion T4. Leider konnte die Denkschrift die systematische Ermordung Hunderttausender Menschen nicht aufhalten. In einem Bericht vom Januar 1942 haben Reichsgesundheitsbehörden berechnet, dass im Messungszeitraum – wahrscheinlich im September 1939 – 63.289 Betten in konfessionellen Heimen und 219.407 in öffentlichen Heimen vorhanden waren. Etwa 30.000 Betten standen in katholischen Heimen (Caritas) und die gleiche Anzahl in Einrichtungen der Inneren Mission zur Verfügung. Ende 1941 wurden 51.539 der 63.289 Betten der konfessionellen Heime ,für andere Zwecke‘ benutzt. Das heißt, dass mehr als 80 Prozent der katholischen und evangelischen Heimplätze nicht mehr für ihre ursprünglichen Zwecke, nämlich für die geistig behinderten Menschen genutzt wurden. Nur 11.750 der konfessionellen Heimbetten blieben dafür übrig. Im Gegensatz dazu wurden nur ungefähr 41.982 beziehungsweise 19 Prozent der 219.407 staatlich verwalteten Heimbetten von ihrer ursprünglichen Bestimmung zweckentfremdet.97 Mit anderen Worten: die beiden deutschen Kirchen haben innerhalb von zwei Jahren über vier von fünf Patienten die Kontrolle über Wohl und Gesundheit derselben verloren. In den Jahren 1939 bis 1945 sind insgesamt 300.000 Menschen mit Behinderungen oder Krankheiten im Euthanasieprogramm getötet worden.98 Diese deprimierenden Statistiken zeigen, mit welcher Zielstrebigkeit und Rücksichtslosigkeit das Hitlerregime im Euthanasieprogramm und später im Holocaust vorging.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Paul Braune mit Erfolg die Leben 25 junger Frauen des Heimes ,Gottesschutz‘ in Erkner rettete sowie die Leben der meisten anderen Bewohner der Hoffnungstaler Anstalten. Braunes Denkschrift deckte alle wesentlichen Eigenschaften des reichsweiten Tötungsprogramms für Menschen mit Behinderungen auf – und das in nur sechs Monaten nach Beginn des Programms. Braune riskierte eine lange Inhaftierung in ein Konzentrationslager und vielleicht sogar sein Leben beim Zusammentragen seines engagierten Protestes gegen die nationalsozialistische ,Euthanasie‘. Während wir uns dem siebzigsten Jahrestag der Rettung Erkners und Braunes Denkschrift nähern, sollten wir einen Moment innehalten, um an diesen mutigen Menschen zu erinnern und ihm Ehre zuteil werden lassen.

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Danksagung

Ich möchte meiner Übersetzerin Bianca Theisen danken. Darüber hinaus bin ich Jan Cantow dankbar dafür, dass er mich mit dem Archivmaterial ausgestattet und diesen Essay kommentiert hat. Letztlich möchte ich Ilse Tödt für ihr behutsames Redigieren eines früheren Entwurfs und ihre hilfreichen Bemerkungen danken.

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Literaturverzeichnis

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Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?! (Psalm 8)

Bernward Wolf

Ausgangslage

Der bedingungslose Schutz menschlichen Lebens am Anfang und am Ende wird angefragt durch Menschen, die von eigenem Leiden oder vom Leid naher Angehöriger oder aber von Behinderung betroffen sind, durch persönliche und gesellschaftliche Interessen, durch neue medizinische Möglichkeiten, durch Philosophie und Theologie und in der politischen Diskussion. Dabei geht es z.B. um die Frage eines selbstbestimmten Lebensendes und rechtliche Regelungen für Patientenverfügungen, um die Frage künstlicher Ernährung alter Menschen, die beeinträchtigt, aber nicht sterbend sind, um den Einsatz pränataler Diagnostik und die Durchführung von sog. Spätabtreibungen und auch um Fragen, die sich aus der Begrenzung der Sozialbudgets und der demographischen Entwicklung ergeben.

Im Europa-Parlament gab es kürzlich eine Abstimmung über europäische Maßnahmen im Bereich seltener Krankheiten. In einem Antrag war die Rede von ,Ausmerzung seltener Erbkrankheiten‘ und der Forderung nach genetischer Beratung, die nicht ergebnisoffen ist. Die Formulierungen wurden geändert, aber es wird deutlich, dass sich in Inhalten und Sprache Grenzen verschieben. Betroffene erleben dies z. T. als erheblichen Druck.

Die Diskussion um die Position von Peter Singer liegt ein paar Jahre zurück. Oberflächlich scheint sie abgeschlossen zu sein. In der Sache hat sich Singers Sichtweise aber längst in gesellschaftlichem Denken eingenistet. Grenzen werden verschoben.

Einerseits ist das ein Glück. Wir können dankbar dafür sein, dass die verbesserten Möglichkeiten der Medizin die Lebenserwartung und auch die Lebensqualität vieler Menschen wesentlich erhöht haben. Andererseits ergibt sich daraus für uns Menschen eine hohe Verantwortung für einen respektvollen Umgang mit jedem Leben, die frühere Generationen nicht in dieser Weise hatten. Wir sollten uns daran erinnern: Die Illusion der Machbarkeit war ein Auslöser für Eugenik und Euthanasie im Nationalsozialismus. Die Bronzestatue ,Beschützende‘, die vor dem Haus ,Gottesschutz‘ in Erkner eingeweiht wurde, erinnert daran und mahnt.

Es geht nicht nur um Vergangenheit, es geht um Fragen, die auch heute aktuell sind. Die Sterilisationen behinderter Menschen und die Tötungsaktionen sind damals nicht vom Himmel gefallen oder plötzlich aus der Hölle hochgekommen, sondern haben aufgebaut auf Entwicklungen, die Jahrzehnte vorher begonnen hatten und die das wissenschaftliche, medizinische und auch gesellschaftliche Denken geprägt hatten. Mit der Frage der sich erweiternden Machbarkeit sind wir auch heute konfrontiert. Wir müssen immer wieder neu ethische und politische Positionen überprüfen und unsere Wertgrundsätze als Diakonie und Kirche auf eine sich neu darstellende Wirklichkeit beziehen. Dabei ergeben sich z. T. ganz neue Fragen, denen sich frühere Generationen nicht stellen mussten.

Eine weitere Herausforderung liegt in der demographischen Entwicklung, die ja z. T. ebenfalls in den neuen Möglichkeiten der Medizin und unserem hohem Lebensstandard begründet ist, also in einem Fortschritt, auf den wir alle auf keinen Fall verzichten wollen. Damit verbunden ist eine Kostenexplosion, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch stärker werden wird. Dies wird öffentlich breit diskutiert. Dabei wird der soziale Bereich vor allem als Belastung dargestellt, weniger als Qualitätsmerkmal unserer Gesellschaft.

Auf der einen Seite ist dies ein ,Gewinn‘ an Leben, den wir gerne annehmen und nutzen. Auf der anderen Seite bedeutet dies aber auch, dass zusätzlicher Einsatz von Menschen gebraucht wird, z.B. Einsatz eines Teiles der ,gewonnenen‘ Lebenszeit, um dem Bedarf an individueller Unterstützung und an Mitverantwortung für die Entwicklung des Gemeinwesens zu entsprechen.

Der ,Gewinn‘ an Leben kann auch Einschränkung auf der anderen Seite bedeuten. Wir können uns offenbar nicht alles gleichzeitig leisten. Ich will das gar nicht nur als Verlust oder Verzicht sehen, weil es eben begründet ist in einem wesentlichen Gewinn an Leben. Wir müssen entscheiden, was uns wie viel wert ist. Ich habe den Eindruck, es gelingt uns noch nicht, dies als eine Herausforderung konstruktiv aufzunehmen.

In beiden Entwicklungen und dem gesellschaftlichen Umgang damit steckt eine Gefährdung von Leben, das auf Unterstützung angewiesen ist. Wir können die Augen verschließen vor dem Lebensrecht und dem Unterstützungsbedarf eines Teiles unserer menschlichen Gemeinschaft. Wir können ignorieren, dass Leiden und Unterstützungsbedarf zum Leben gehören – bis wir es möglicherweise selbst erleben. Die Folgen erleben Menschen, die mit Beeinträchtigungen leben müssen schon heute, weil ihnen Unterstützung nicht im notwendigen Umfang gewährt wird.

,In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?‘, fragt die Aktion Mensch. Wie wollen wir leben? Wie wollen wir Reichtum und Lebenschancen verteilen? Was bedeuten Gerechtigkeit und Teilhabe und was sind sie uns als Gesellschaft wert? Eine Antwort hängt letztlich davon ab, wie wir das Leben von Menschen sehen, die auf Unterstützung angewiesen sind und auch, wie wir unser eigenes Leben verstehen.

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Verdankte Existenz – der Mensch als Geschöpf

Staunen über den Menschen.

„Ich bin stolz, dass ich bin wie ich bin und außer mir gibt’s keinen Zweiten wie mich“1 – das hat kürzlich ein Bewohner oder eine Bewohnerin der Diakonie Kork in einer Befragung erklärt. ,Ich bin stolz, dass ich bin wie ich bin und außer mir gibt’s keinen Zweiten wie mich‘: Darin steckt ein faszinierendes Selbstbewusstsein, Lebensfreude, Stolz – pralles Leben. Und darin stecken ganz wesentliche Inhalte des christlichen Menschenverständnisses.

Ich bin wie ich bin. Ich finde mein Leben vor als etwas, was ich mir nicht gegeben habe; es ist mir gegeben, geschenkt, anvertraut. Ich habe Gaben und Schwächen, die ich nicht zu verantworten habe; weder habe ich mich dafür zu entschuldigen, noch kann ich sie als mein Verdienst betrachten. Gaben und Schwächen - ich finde sie beide vor. Ich bin dann allerdings an der Gestaltung und Entwicklung meiner Gaben und dem Umgang mit meinen Schwächen, an der Gestaltung meines Lebens beteiligt und trage Verantwortung.

Theologisch entspricht das dem Verständnis des Menschen als Geschöpf.

Ich bin einzigartig, ,außer mir gibt’s keinen Zweiten wie mich‘ – ich mit meinen Gaben, meinen Schwächen und meinen Möglichkeiten, ich mit meinen ganz individuellen Lebensaufgaben und mit meinem einzigartigen Lebensweg.

Das ermöglicht Demut und Selbstbewusstsein zugleich.

Demut nicht als Unterwürfigkeit und Selbstaufgabe – auch da haben wir eine Geschichte in der Diakonie –, sondern Demut in dem Sinne, dass ich mich als Teil eines Ganzen sehe. Selbstbewusstsein in dem Sinne, dass ich mit meinen Schwächen den aufrechten Gang wage, immer wieder neu, und anderen Menschen auf Augenhöhe begegne. Dann brauche ich – hoffentlich – in der Begegnung von Mensch zu Mensch keine Rangordnung mehr.

Wenn wir Leben, unser Leben als etwas Vorgefundenes, als Gabe und zwar als Gabe Gottes verstehen, dann können wir uns als Menschen nicht zu Herren über Leben und Tod machen – weder der betroffene Mensch selbst, noch der behandelnde Arzt, noch die Angehörigen, noch die Gesellschaft. Hier finden nach christlichem Verständnis auch Selbstbestimmung bzw. Autonomie ihre Grenze.

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?!:

2 Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen, der du zeigst deine Hoheit am Himmel!

3 Aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge hast du eine Macht zugerichtet um deiner Feinde willen, dass du vertilgest den Feind und den Rachgierigen.

4 Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast:

5 was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?

6 Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.

7 Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan:

8 Schafe und Rinder allzumal, dazu auch die wilden Tiere,

9 die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer und alles, was die Meere durchzieht.

10 Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen! “ (Psalm 8)

Staunen, Freude, Stolz sprechen auch aus diesem Psalm. Der Mensch hat unglaubliche Möglichkeiten. Und diese Möglichkeiten sind geschenkte Möglichkeiten: Du hast ihn gemacht.

Aber auch hier wird nicht vom Menschen als vollkommen gesprochen: Kinder und Säuglinge werden beispielhaft als die beschrieben, die in einem unmittelbaren Verhältnis zu Gott, dem Grund und Ursprung menschlichen Lebens stehen. Kindern gelten üblicherweise nicht die Attribute Stärke, Macht, Reichtum, Unabhängigkeit. Ihnen gegenüber werden Mächtige – ,Feinde und Rachgierige‘ – genannt, Menschen, die aufrechnen, die sich mit Gewalt durchzusetzen versuchen.

Das ist Sprache und Vorstellung der damaligen Zeit, das sind alte Lebensverhältnisse; die Aussage, die darüber hinaus reicht, heißt: Schwachheit, Unmittelbarkeit, auch Ohnmacht ist dem Leben und Gott als dem Ursprung des Lebens näher als äußerliche Stärke, Macht, Gewalt, als das Lebensfeindliche. Und damit gelten nicht nur Kinder oder z.B. Menschen mit Behinderungen oder mit besonderem Unterstützungsbedarf als ,die Schwachen‘, sondern dies ist eine Seite des Mensch-Seins, jedes Menschen; sie findet sich bei jedem Menschen in unterschiedlicher Ausprägung. Wenn ich diese Seite wahrnehme, zulasse, eröffnet sich mir Leben.

Ulrich Bach, Theologe in der Diakonischen Stiftung Volmarschein, selbst schwer körperlich behindert und Anfang dieses Jahres gestorben, hat immer wieder darauf hingewiesen, dass hier ein, wenn nicht der zentrale Schlüssel für das christliche Verständnis vom Menschen liegt und hat alles ,Apartheidsdenken‘ und alle ,Apartheidstheologie‘ schärfstens kritisiert. Gott selber hat sich als hilfebedürftig zu erkennen gegeben in Jesus Christus: Am Anfang seines Lebens stand die Flucht nach Ägypten. Im Garten Gethsemane bat er seine Jünger, ihn zu unterstützen und wach zu bleiben, zu beten. Auf dem Weg zum Kreuz musste Simon von Kyrene sein Kreuz tragen, weil er keine Kraft mehr hatte.2 Und auch der bekannte Satz aus Matthäus 25: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“, gibt an, wo Gott zu finden ist.

Hier geschieht keine Verherrlichung von Leid, Hilfebedürftigkeit und Unvollkommenheit, aber die volle Einbeziehung dieser Situationen in das, was Leben ist. Hier wird dafür geworben, Leben zu entdecken, wo es auf den ersten Blick leicht übersehen wird. In der Begrenztheit wird Leben in besonderer Weise erkennbar. Wir machen diese Erfahrung manchmal in Begegnungen mit Sterbenden, mit Kindern, mit Menschen mit Behinderung. Das ist nicht selbstverständlich.

Deshalb fragt der Psalmist: ,Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?‘ Der Mensch ist unvollkommen; das ist manchmal mühsam, aber das ist nicht nur ein Mangel, sondern damit verbinden sich Offenheit, Entwicklungsfähigkeit, Verantwortung. – Die Bibel „widersteht [...] dem menschlich verständlichen Wunsch nach Ausgrenzung von Unangenehmem, Schwierigem, Beängstigendem. Sie erinnert ihre Leser und Hörerinnen bewusst an das, was gern verdrängt und vergessen wird, und lehrt es zu bedenken.“3

Dies wird z.B. deutlich an biblischen Aussagen zum Umgang mit Fremden, also mit Menschen, die „anders“ sind: „Die Fremdlinge sollst du nicht bedrängen und bedrücken; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen. Ihr sollt Witwen und Waisen nicht bedrücken!“ (2. Mose 22, 20 f.) Die Fremdlinge und das erinnerte eigene Fremdling-Sein stehen im Alten Testament immer wieder als ein Beispiel von Schwäche und Unterstützungsbedarf. Aber sie bleiben nicht etwas Fremdes außerhalb unserer selbst, ihre Situation wird gewissermaßen gespiegelt in uns selbst. Da gibt es eine Verbindung zwischen den scheinbar Starken und den scheinbar Schwachen. ,Die Fremdlinge sollst du nicht bedrängen und bedrücken‘ – das ist also nicht nur eine moralisch-ethische Handlungsanweisung gegenüber anderen, sondern wird verbunden mit dem Hinweis auf die eigenen Ängste, Sorgen, Schwächen. Es geht also nicht nur um eine Frage von Glaube und Ethik, sondern im Grunde um die Frage der ,Anerkennung oder Verleugnung von Wirklichkeit‘, meiner eigenen Wirklichkeit.

In dem dahinter stehenden Menschenverständnis steckt ein Gesellschaftsbild, das offen ist für Vielfalt. Der Mensch ist unvollkommen – die Beschäftigung mit der Geschichte, gerade unserer deutschen Geschichte, eröffnet noch einen anderen Aspekt, der von Bedeutung ist für das Menschenverständnis: Die Täter von Euthanasie und Missachtung der Menschenwürde waren Menschen.

Was ist der Mensch, dass er so etwas tun kann?

Was ist der Mensch, dass er Menschen mit Behinderung das Lebensrecht abspricht?

Was ist der Mensch, dass er sich bedroht fühlt durch Menschen, die ,anders‘ sind?

Vor etwa 20 Jahren haben wir die Positionen des australischen Philosophen Peter Singer diskutiert. Die meisten von uns haben sie scharf abgelehnt. Mit dem christlichen Menschenverständnis lassen sie sich jedenfalls nicht verbinden. Und trotzdem haben wir uns damals zugleich gefragt: Kennen wir das nicht auch bei uns selbst, dass wir nach dem Wert, dem Sinn des Lebens eines schwer behinderten oder leidenden Menschen fragen? Gibt es da nicht auch in uns so etwas wie Tötungswünsche: Wäre es nicht eine Erlösung, wenn dieser Mensch sterben könnte? Solche Empfindungen sind da. Ich glaube sogar, sie sind ganz natürlich.

Die Frage ist: Wie gehen wir mit diesen Empfindungen um? Sie zu leugnen, führt nicht weiter, könnte sogar gefährlich sein. Wir können sie nur nüchtern wahrnehmen, als Empfindungen zulassen und dann in Verantwortung handeln, indem wir uns an unserem christlichem Menschenverständnis orientieren, wonach jedes menschliche Leben Gabe Gottes ist, über das wir nicht verfügen können, sondern dem wir nur Lebensmöglichkeiten eröffnen und das wir dabei unterstützen können, seinen individuellen, einzigartigen ,Weg‘ zu gehen.

Im Blick auf den Ausgangsaspekt, die unterschiedliche Bewertung von Leben, die Minderbewertung schwachen und beeinträchtigten Lebens bedeutet das: So wie wir hinter unsere eigene individuelle Vorfindlichkeit nicht zurückkönnen, können wir dies auch nicht in Bezug auf das Leben eines anderen Menschen. Darin steckt ein gewisses Axiom, das für mich aber plausibel ist und das dem Tötungsverbot der biblischen Botschaft entspricht: Die Entscheidung über Leben und Tod, über Lebenswert oder -unwert steht mir nicht zu, sondern ist allein Gottes Sache, liegt außerhalb unserer Gestaltungsfreiheit als Menschen, gehört zur Vorfindlichkeit. Und ebenso ist in dieser Sichtweise die Würde des Lebens eben unantastbar, weil sie mir und allen anderen Menschen in unserer Vorfindlichkeit gegeben ist. Das verbietet jede Selektion nach Gesichtspunkten wie lebenswert – lebensunwert, glücklich – unglücklich, mehr oder weniger belastend, mehr oder weniger behindert usw.

Was ist das Ziel des Mensch-Seins, des Lebens?

Was ist unser Wunsch, unser Auftrag, unsere Verantwortung?

Was heißt ,gelingendes Leben‘?

Das heißt jedenfalls nicht, dass alles im Leben gelingt. ,Gelingendes Leben‘ – man kann das vielleicht so umschreiben: Ein Mensch kann das eigene Leben annehmen und bejahen. Er erkennt oder erlebt darin Sinn, Zusammenhang in Bezug auf den eigenen Lebensweg – Leben wird vorwärts gelebt, aber rückwärts verstanden (Frei nach Søren Kierkegaard), d.h. ein Mensch – ich – kann den eigenen individuellen Weg finden, ihn gehen und mitgestalten, ein Mensch – ich – kann damit Vertrauen gewinnen zu sich, zu mir selbst, zum Leben, zu Gott und die Verlässlichkeit anderer Menschen erfahren, ein Mensch – ich – kann damit die eigenen Gaben und Möglichkeiten einbringen und den eigenen Ort in der Gemeinschaft finden.

Und das bedeutet dann auch, da wo ich mein Leben als Gabe verstehe, wo ich mich vorfinde, ebenso wie der Mensch neben mir sich vorfindet, hat das zur Folge, den Menschen, die auf Unterstützung und Hilfe angewiesen sind, diese zu geben, damit auch sie ihren individuellen Weg finden, ihn gehen und mitgestalten können, damit sie Vertrauen zu sich selbst, zum Leben, zu Gott gewinnen und die Verlässlichkeit anderer Menschen erfahren, damit sie ihre Gaben und Möglichkeiten einbringen und ihren Ort in der Gemeinschaft finden können, damit sie aufrecht leben und anderen Menschen auf Augenhöhe begegnen können.

Wir alle brauchen dies zu unserem Mensch-Sein, weil wir alle erfülltes Leben suchen und weil Erfüllung des Lebens sich erst da realisiert, wo sie allen möglich ist.

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Leben in Gemeinschaft

„Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“, so heißt es in der Schöpfungsgeschichte, „ich will ihm ein Gegenüber schaffen, das um ihn sei.“ (1. Mose 2,18) Mit dem Gegenüber, also einerseits in Verbindung und Gemeinschaft und zugleich in Abgrenzung, erlebt der Mensch sein Mensch-Sein.

,Am Du werde ich zum Ich‘, sagt Martin Buber, der jüdische Philosoph. Der Theologe und Arzt Albert Schweitzer formuliert als Leitsatz seiner Ethik: ,Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.‘ Damit zieht Albert Schweitzer allerdings den Kreis noch weiter, über das direkte Gegenüber hinaus und auch über die menschliche Gemeinschaft hinaus.

Leben geht aus Gemeinschaft hervor, der Mensch braucht Gemeinschaft und der Mensch schafft und bereichert Gemeinschaft. Mit seiner Einzigartigkeit, seinen Stärken, Schwächen, Besonderheiten ist er ein Element in menschlicher Gemeinschaft. Es heißt zwar ,gleich und gleich gesellt sich gern‘, trotzdem ist Leben und menschliche Gemeinschaft vielfältig.

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,Jeder Mensch braucht seine tägliche Dosis an Bedeutsamkeit für andere.‘

Zuwendung zu anderen, auch helfen und unterstützen zu können ist Glück. Es muss nicht Verzicht und Selbstaufgabe bedeuten, sondern gerade darin kann Gewinn von Leben erfahren werden: ,Jeder Mensch braucht seine tägliche Dosis an Bedeutsamkeit für andere.‘ (Klaus Dörner)

Natürlich gibt es auch Zuwendung, helfendes Handeln, die uns an Grenzen bringen und überfordern. Das soll überhaupt nicht bestritten werden. Mit solchen Situationen muss jeder und jede für sich und im Blick auf andere Menschen achtsam umgehen. Aber wir kommen – gerade in der Diakonie – aus einer Tradition, in der Zuwendung und Hilfe oft mit Hingabe und Selbstaufgabe gleichgesetzt werden, und wir leben in einer Zeit, in der Unterstützung und Hilfe oft nur als Belastung gesehen werden. Dem möchte ich entgegensetzen: Helfen kann auch Lust und Erfüllung bedeuten. Und auch das kennen wir in der Diakonie!

In Zukunft werden wir als Gesellschaft diesem Aspekt in ganz neuer Weise Bedeutung verschaffen müssen: Wenn wir den wachsenden Bedarf von Menschen an sozialer und pflegerischer Unterstützung auf der einen Seite und die Sehnsucht von Menschen nach Sinn und Erfüllung des Lebens auf der anderen Seite miteinander in Beziehung bringen, kämen wir einer Lösung großer Probleme unserer Zukunft ein Stück näher und würden zugleich einen Beitrag leisten zu einer neuen Kultur des sich miteinander, füreinander verantwortlich Wissens, nicht als moralische Pflicht, sondern als persönliches Glück und als Qualitätsmerkmal unserer Gesellschaft.

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Eine Welt ohne Behinderung? – Vision oder Alptraum?

Eine Welt, die nicht Menschen behindert – das wäre eine Vision...: Das ist eine Vision!

Eine Welt ohne beeinträchtigte Menschen – das wäre ein Schrecken, denn wir alle sind beeinträchtigt, nur in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichem Ausmaß Erst da, wo wir unsere Grenzen und Beeinträchtigungen wahrnehmen und mit ihnen umgehen lernen, nehmen wir uns wirklich in unserem Menschsein wahr – und eigentlich werden wir auch dann erst gesellschafts- und gemeinschaftsfähig.

Die Aktion Mensch fragt: In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Für die v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel haben wir das so formuliert:

„Unsere Vision ist das selbstverständliche Zusammenleben, das gemeinsame Lernen und Arbeiten aller Menschen in ihrer Verschiedenheit: Mehr oder weniger gesunde, mehr oder weniger behinderte, mehr oder weniger leistungsfähige, jüngere und ältere Menschen, Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft und religiöser Prägung sollen als Bürgerinnen und Bürger mit gleichen Rechten und Chancen in der Gesellschaft leben.“4

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Gemeinsam mit Grenzen Leben 1

Manfred Kock

Die Woche für das Leben erinnert in diesem Jahr an die grundlegende ethische Verpflichtung von Christinnen und Christen, sich mit kranken und behinderten, mit sterbenden und verzweifelten Menschen zu solidarisieren. Der Glaube befähigt nicht nur, sich leidenden Menschen zuzuwenden. Er hilft auch, einen nüchternen Blick dafür zu entwickeln, dass für Behinderte geeignete äußere Rahmenbedingungen und zweckmäßige Strukturen geschaffen werden und dafür genügend Geld zur Verfügung steht. Denn diese Grundlagen für Pflege und Hilfe fallen nicht vom Himmel. Gemeinschaftliche Unterstützung ist notwendig, damit denen, die auf fremde Hilfe angewiesen sind, ein menschenwürdiges Leben ermöglicht wird.

Unsere plurale Gesellschaft lebt nicht wertneutral. Es gibt in den unterschiedlichen weltanschaulichen Lagern und bei den Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungen in großem Maß ,ethische Ressourcen‘, für die wir dankbar sind. Vieles von diesen Auffassungen steht im Zusammenhang mit den geistigen Wurzeln Europas und wurde von christlichen Grundüberzeugungen und in Auseinandersetzung mit Ihnen geprägt. Auch andere wissen darüber Bescheid, was verbindlich für alle sein muss, – nicht nur die Christen. Die Woche für das Leben ist daher nicht nur eine Bewegung der Kirchen, sie ist auch Impuls für die Gesellschaft insgesamt. Gemeinsam mit Grenzen leben heißt, denen, die nicht für sich selbst sorgen und eintreten können, Hilfe, Raum und Stimme zu geben und zugleich von denen, die behindert sind, den anderen Blick zu lernen und ihre Möglichkeiten wertzuschätzen.

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1. Die Geschichte vom blinden Bartimäus

Das will ich nun an einer biblischen Gestalt entfalten, dem blinden Bartimäus. Er soll Exempel auch für Menschen mit anderen Behinderungen sein, für Gelähmte, Hörgeschädigte, psychisch Erkrankte, geistig Behinderte, dement Gewordene – kurz für alle, die wegen einer Behinderung mit Nachteilen und Ausgrenzungen zu leben haben.

Die Geschichte vom blinden Bartimäus steht im Markusevangelium (Mk 10, 46-52). Bartimäus schreit, als er hört, dass Jesus vorbei kommt und mit ihm die Botschaft von einer neuen Gerechtigkeit. Was er von dem Wanderprediger und Wunderheiler aus Galiläa hat erzählen hören, davon will er sich eine eigene Vorstellung machen. Und er will, was er bisher nie konnte: Er will sehen. Und ,sehen‘ heißt: den Blick für die eigene Würde gewinnen, sich als gleichwertigen Menschen erleben, anderen ins Gesicht blicken können und ihren Respekt erfahren.

Bartimäus schreit. Er will sich nicht mehr begnügen mit der Hilfe, die ihm die Familie, die Nachbarn, die Freunde bisher haben angedeihen lassen. Bartimäus, der in so vielen Alltagsdingen auf die Pflege und Unterstützung anderer angewiesen ist, tut etwas Eigenes: Bartimäus schreit.

Den anderen ist das peinlich. Sie versuchen, ihn zu beruhigen. Vergeblich. Er will die Zuwendung Jesu unbedingt. Jahrelang hatte er sich ohne Murren seinen Platz anweisen lassen. Nun fällt er auf einmal aus der Rolle. Der bislang so pflegeleichte Bettler wird lästig.

Bartimäus hat einen festen Platz zum Betteln am Stadttor, das war sein Arbeitsplatz. Er will aber mehr als Mitleid und mehr als freundliche Almosen. Er will sehen. Er will teilhaben am Ansehen, das jedem Nichtbehinderten gewährt wird, er will Anteil am selbstbestimmten Leben.

So sicher der Blinde dessen ist, was er braucht, so verunsichert sind die, die ihm dazu verhelfen müssten. Doch sie, die ihn von Jesus fernzuhalten suchen, erweisen sich als die eigentlich Behinderten, Unsensiblen, Uneinsichtigen. Ihnen müssten erst einmal die Augen aufgehen für die eigene Beschränktheit. Damit sich für Bartimäus und seine Leidensgenossen etwas bessern kann, müssen auch die Gesunden von den Einschränkungen ihres Gesichtsfelds geheilt werden.

Offenbar gerät mit dem Auftreten Jesu das ganze Rollenspiel von gesund und krank, stark und schwach, gerecht und ungerecht, behindert und normal durcheinander. Jesus teilt nicht die Bedenken seiner Predigthörer, die meinen, sie müssten dem Rabbi die Begegnung mit diesem Predigtstörer ersparen.

Wie so oft bei Begegnungen zwischen Jesus und den Außenseitern ereignet sich das Wunderbare schon vor dem eigentlichen Wunder: Der zur Erfolglosigkeit Verdammte hat Erfolg. Der auf fremde Hilfe angewiesen war, ändert seine Lage auch mit dem Einsatz eigener Kräfte: Er springt auf und geht auf Jesus zu. Der wendet sich seinerseits dem Rufenden zu und fragt ihn: „Was kann ich für dich tun?“

Behinderte und andere Pflegebedürftige leben bei uns nicht mehr unter den Bedingungen des Bartimäus. Doch alle Analysen, Studien und Berichte nennen Pflegebedürftigkeit ausdrücklich als eines der Armutsrisiken. Behinderte und Pflegebedürftige haben Rechte, und sie brauchen die Solidarität der anderen, damit Menschenwürde nicht Schaden nimmt und damit sie Lebensqualität gewinnen.

Pflegebedürftige sind keine Bettler wie Bartimäus. Aber der war damals innerhalb seines Gefüges durchaus versorgt. Er wurde zum Erwerb seines Lebensunterhalts selber mit herangezogen. Und er gab den anderen noch mit seiner Dankbarkeit und seinen Segenswünschen das Gefühl, etwas Gutes getan zu haben. Das ist nicht nichts.

Aber das eigentliche Leid seiner Lage war dieses: alles das geschah auf Kosten seiner Würde. Offenbar kam niemand auf den Gedanken, den Betroffenen selber zu fragen: „Was kann ich für dich tun?“

Dabei ist diese Frage, wie Jesus sie stellt, so nötig. Denn sie nimmt die Kompetenz des Pflegebedürftigen für seine eigene Lage ernst. Niemand weiß besser, was es heißt, mit Einschränkungen zu leben, als die Betroffenen selber. Wenn so nicht gefragt wird, wenn die anderen, die ,Normalen‘ besser wissen, was der Leidende braucht, dann passiert schnell, was in unserer Geschichte von Bartimäus in der Abwehr des schreienden Bettlers eine Rolle spielt: Die bloß Almosen geben, wehren weitere Verpflichtungen ab. Sie versuchen mit vorgeblich guten Gründen den Protest des Blinden zu unterdrücken, lassen ihn nicht nur im Dunkeln, sondern wollen ihn auch noch zusätzlich stumm machen.

Vieles wird heute aufgeboten, um Behinderten und Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen plausibel zu machen, dass ihre Anspruchshaltung im Blick auf den Erhalt von hohen Pflegestandards unbezahlbar ist. Gerade angesichts der weltweiten Finanzkrise werden die wirklich Bedürftigen unüberhörbar auf weitere Einschränkungen vorbereitet. Da ist schon jetzt aus dem Pflegesatz gerade das herausgekürzt, was mit der Menschenwürde ganz unmittelbar zu tun hat: die Zeit für Zuwendung.

Jeder, der etwas von Kindern versteht, weiß, dass sich die meisten Erziehungsprobleme lösen lassen, wenn man sich dem Kind zuwendet. Jede Pflegekraft weiß, dass mit den Patienten oder Angehörigen geredet werden muss, damit sie in hilfloser Lage nicht aggressiv oder lethargisch werden. Zuwendung ist der Schlüssel für wunderbare Verwandlungen. Warum zählt das nicht in den Katalogen der Leistungsbemessungen?

Jesus, der Blinden die Augen öffnet, will uns an den Einsichten des Bartimäus teilhaben lassen. Die Gesunden erkennen bei genauerem Hinsehen, dass sie die heilende Gerechtigkeit aus Gottes Hand ebenso brauchen, wie die sichtbar vom Unheil betroffenen.

Und noch anderes sagt uns die Geschichte: Schreien ist erlaubt, ja geboten. Es ist den Blinden erlaubt und geboten, Gott in den Ohren zu liegen, auch mit ihren unerfüllbaren Sehnsüchten. Schreien ist erlaubt und geboten angesichts der sozialpolitischen Krämerseelen und finanzpolitischen Erbsenzähler, die sagen: „Das geht nicht, was ihr euch da vorstellt, wer soll das alles bezahlen?‘

In der Geschichte von Bartimäus dreht Jesus die Logik der Notwendigkeiten um: Nicht der, bei dem es die Augen nicht tun, sondern der, dem die Phantasie erblindet, ist behindert. Verrückt ist nicht Bartimäus, der das Unmögliche will, verrückt sind die, die vor dem Problemberg resignieren: Arm ist nicht der Bettler, sondern die, die keine Vision von Gerechtigkeit und Menschlichkeit haben.

Am Ende kommt die Erkenntnis: Selbst bei einem – im wahrsten Sinn des Wortes – ,aussichtslosen‘ Fall wie Bartimäus ist mehr drin, als alle glauben. Die Begegnung mit Jesus macht das sichtbar für den Betroffenen und die Zuschauer, die das Wunder beobachten, und für die Zuschauer der Zuschauer, also für uns. Uns dürfen die Augen aufgehen dafür, wie einer berührt wird und neues Leben erfährt.

Das ist die Botschaft Jesu! Darin liegt der Sinn seines Lebens und seines Mitleidens, seines Sterbens und seiner Auferstehung.

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2. ,Was willst du, dass ich für dich tun soll?‘

Pflegebedürftige und ihre Angehörigen brauchen Ermutigung, und eine Gesellschaft, die auch in Zukunft Menschen würdig zu pflegen hat, braucht die Vision von der neuen Gerechtigkeit, damit heute und auch morgen noch Herz und Hand und Vernunft und Gewissen so zusammenwirken, dass das wirklich ,Not-Wendige‘ geschieht für die, die auf fremde Hilfe angewiesen sind.

Dieser Sicht von gesellschaftlicher Verantwortung liegen Wertentscheidungen zu Grunde, die gewiss christliche Wurzeln haben. Ein großer Teil der Menschen in unserem Lande fühlt sich darauf jedoch nicht ohne weiteres verpflichtet. Wird es also in einer pluralen Gesellschaft nur eine Sache von Mehrheitsentscheidungen sein, gemeinsam mit Grenzen, also auch mit Behinderungen zu leben? Oder ist es – Mehrheiten hin, Mehrheiten her – Pflicht des Gemeinwesens, das Handeln an Grundwerten zu orientieren, die nicht je nach Stimmung zur Disposition stehen? Es gibt bei aller Pluralität in der Gesellschaft zumindest Grundzüge eines Konsenses darüber, dass gemeinsame Verantwortung getragen werden muss. Es gibt ,Koalitionen der Menschen guten Willens‘ in der pluralen Gesellschaft.

Allerdings steht die Gesellschaft immer wieder vor schwierigen Herausforderungen. Durch neue Entdeckungen, wie zum Beispiel die Entschlüsselung weiterer Details der menschlichen Gen – Struktur werden neue Vorhersagen über mögliche Krankheitsdispositionen möglich. Das verändert die Bewusstseinslage der Menschen. Da gibt es Staunen und Begeisterung über die Entdeckungen, und zugleich wächst auch die Befürchtung, wie unter diesen Umständen Leben noch zu schützen sei – vor allem, wenn es den Idealmaßen nicht entspricht. Zweifellos hat genauere Diagnostik im vorgeburtlichen Stadium die Haltung zu behindertem Leben verändert.

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3. Die ethische Herausforderung in der ,pluralen‘ Gesellschaft

In den Fragen des Umgangs mit Behinderten und des Lebensschutzes sind die Kirchen keine ohnmächtigen Diskussionspartner der pluralen Gesellschaft; ihre Argumente werden nicht immer, aber doch immer wieder gehört, und der Versuch der Kirchen, Politik möglich zu machen, ist nicht selten erfolgreich.

Die Diskussionslage heute hat sich gegenüber der Grundwertediskussion in den siebziger Jahren gewandelt. Damals ging es um die Frage: ,Wie christlich ist dieser Staat und wie weit ist er noch bereit, christliche Überzeugungen in Gesetzen und im Regierungshandeln zu berücksichtigen?‘ Heute geht es eher um die Frage: ,Wie können wir mit Gottes Hilfe in der pluralen Gesellschaft für Wert und Würde des Menschen eintreten, wie können die Kirchen sich mit ihrem Engagement und ihren guten Argumenten für das Leben einsetzen und dabei Bundesgenossen finden?‘

Nicht die Pluralität unserer Gesellschaft scheint mir das Problem zu sein, wenn es um die Rechte von Behinderten geht. Es geht vielmehr um die besondere Ausrichtung bestimmter Überzeugungen.

Da treten Interessen in den Vordergrund, die das technisch Machbare rein aus wirtschaftlichem Interesse machen wollen.

Da gewinnen Konzepte die Oberhand, die Starken zu fördern und die Schwachen zu benachteiligen. So sehr unsere Gesellschaft Interesse daran haben muss, dass Hochbegabte gefördert werden, so schädlich wird es, wenn dabei die Selektion gefördert und dabei die Würde des Menschen gering geachtet wird.

Im Übrigen ist in der gerade brodelnden Wirtschaftskrise deutlich geworden, wie um des Profits willen nicht das Leben, sondern die Lebensgier im Vordergrund steht.

Hier sehe ich die eigentliche Frontlinie. Wir haben es nicht mit einer Partei oder gar mit dem Staat oder der jeweiligen Regierung zu tun, wenn es gilt, für den Schutz des Lebens zu streiten, sondern mit ganz bestimmten Ausprägungen des Zeitgeistes in der pluralen Gesellschaft. Diese Frontlinie geht quer durch alle Lager und Bereiche. Ja, die ewige Versuchung geht bisweilen auch mitten durch unser Christenherz, jene uralte Frage der Schlange: ,Sollte Gott etwa gesagt haben ...?‘

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4. Aufgaben der Kirche, das Leben zu schützen

Was aber sind die Lebensschutzaufgaben der Kirche in der pluralen Gesellschaft?

Für den Schutz des Lebens setzen wir Christen uns nicht einfach deshalb ein, weil wir vom Leben gewissermaßen eine ,religiöse Sicht‘ haben. Wir glauben, dass das Leben eine Gabe Gottes ist und die Gottebenbildlichkeit des Menschen ein Ausdruck des Bundes, den Gott mit uns geschlossen hat. Unser Einsatz für die Würde von behinderten Menschen und für den Schutz des Lebens in einer säkularen und pluralen Gesellschaft setzt darauf, dass wir für etwas eintreten, was unabhängig von religiösen oder weltanschaulichen Begründungen für alle Menschen Evidenz besitzt. Wir sprechen die Menschen an auf etwas, das alle betrifft und eine zentrale und bedrängende Frage für jeden werden kann.

Die Tugend des Teilens, die Kunst des Schönen, die Kultur der Vergebung und die Lebenskraft der Versöhnung sind offensichtlich lebensdienlich und sind ethische Ressourcen, ohne die diese Welt und das Leben in ihr unerträglich wären.

Das ist plausibel im Grunde auch für die, die die Herkunft dieser Ressource nicht kennen. In diesem Sinne können auch Nichtchristen verstehen, was mit dem Motto ,Gemeinsam mit Grenzen leben‘ gemeint ist. Nun also zur Frage: Was sind die Aufgaben der Kirche bei den Bemühungen um die Würde jedes Menschen und den Schutz menschlichen Lebens in der pluralen Gesellschaft? Ich will einige wichtige Punkte nennen ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

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Das Eintreten für einen gesellschaftlichen Konsens

Eine entscheidende Aufgabe der Kirchen ist, in der pluralen Gesellschaft zur Konsensbildung in diesen Fragen beizutragen. Es muss eine Art ,Gesellschaftsvertrag‘ über die Achtung der Würde von Behinderten und den Schutz des Lebens geben. Eine Gesellschaft mag so plural sein, wie sie will, wenn jedoch all die verschiedenen Menschen und Gruppen nicht mehr in den zentralen Fragen des Lebens, dazu gehört das Grundrecht auf unversehrtes Leben und die Grundsicherung des Überlebens, einen gemeinsamen Nenner finden, dann sind die Lebensgrundlagen dieser Gesellschaft gefährdet.

Der Konsens zielt auf Inhalte, die im Wertesystem unserer Gesellschaft zu wahren sind. Er ist nicht einfach identisch mit einer Mehrheitsmeinung. Das, was in der Bevölkerung als normal gilt, ist nicht damit schon normativ. Der Konsens, um den es uns gehen muss, ist ein Konsens in Sachen Menschlichkeit und Lebenschancen. Konsens für das Leben bedeutet Dissens mit allem Lebensfeindlichen. Aufgabe der Kirche ist es deshalb, nicht für Konsens und Verständigung an sich einzutreten, sondern für eine Koalition von Menschen guten Willens für den Schutz des Lebens.

Wenn wir zurückblicken auf die großen konfliktreichen Diskussionen über Abtreibung, Frieden, Umwelt, dann können wir zwar sagen, dass es zu Konsensbildungen, zu beachtenswerten Fortschritten und zu gemeinsamer ethischer und politischer Willensbildung kam. Aber wir können nicht sagen, dass wir mit der Lösung der so bewegenden Fragen zu irgendeinem ,Ende‘ gekommen wären. Selbst wenn ein Meinungsstreit in der pluralen Gesellschaft verebbt und Ruhe an den Fronten einkehrt, sind wichtige Kernfragen weiter strittig. Bitterkeit über Ungelöstes und Enttäuschung über Nichterreichtes bleiben. Aufgabe der Kirchen ist es, den langen Atem aufzubringen, den die Konsensbildung fordert, und in der Hoffnung auf Erreichbares nicht nachzulassen.

Selbst auf das Risiko hin, uns dabei dem Vorwurf auszusetzen, nicht auf der Höhe der Zeit zu sein, müssen wir beharrlich auch zu den Themen sprechen, die aus dem Blick der Modethemen heraus gefallen sind.

Die Kirchen sind keineswegs selbst ein Hort des Konsenses. Sie haben zwar eine große Chance, zu einem Konsens in der Gesellschaft beizutragen und in ihren eigenen Reihen einen ,stellvertretenden Konsens für die Gesellschaft‘ (Eberhard Müller) zu erarbeiten, aber sie machen dabei Bekanntschaft mit dem Dissens und auch mit der Ermüdung in den eigenen Reihen. Die Kirchen haben Teil an der pluralen Gesellschaft und spiegeln die Meinungen, Parteiungen, Gruppen und Schichten wider.

Wer eintritt für den Schutz des Lebens, wird den Streit riskieren und sich kritisch mit jenen auseinandersetzen müssen, die im Blick auf den Lebensschutz oder die Würde des Menschen problematische Positionen vertreten.

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Ein Beispiel

Der Ethiker Peter Singer vertritt in seiner ,Praktischen Ethik‘, die er 1979 veröffentlicht hat, die These, ,dass das Leben eines Fötus nicht mehr wert ist als das Leben eines nichtmenschlichen Lebewesens auf einem ähnlichen Stand der Rationalität, des Selbstbewusstseins, des Bewusstseins, der Fähigkeit zu fühlen usw. und dass, weil ein Fötus keine Person ist, ein Fötus nicht denselben Anspruch auf Leben hat wie eine Person.‘ Singer fährt fort: ,Nun muss man zugeben, dass sich diese Argumente eben sowohl auf Neugeborene wie auf Föten anwenden lassen. Ein Neugeborenes, das eine Woche alt ist, ist kein rationales und selbstbewusstes Wesen, und es gibt viele nichtmenschliche Lebewesen, deren Rationalität, Selbstbewusstsein, Wahrnehmungsfähigkeit, Fähigkeit zu fühlen usw. die Fähigkeit eines eine Woche oder einen Monat alten Säuglings übertreffen. Wenn der Fötus nicht denselben Anspruch auf Leben wie eine Person hat, dann hat ihn das Neugeborene offensichtlich auch nicht, und das Leben eines Neugeborenen hat für dieses weniger Wert als das Leben eines Schweins, eines Hundes oder eines Schimpansen für das nichtmenschliche Tier.‘

Hier werden Wert und Personsein eines Menschen festgemacht an Bewusstsein, Rationalität, Selbstbewusstsein und der Fähigkeit zu fühlen. Diese Auffassung von Leben hat nichts mehr zu tun mit Gottes Bild, eher mit Tieren, mit Schwein, Hund oder Schimpanse. Damit ist ein gedanklicher Dammbruch vollzogen, der Zugriff auf behindertes Leben, auf das noch Ungeborene und auf das schon Geborene wird möglich. Hier ist die geistige Wurzel, die auch für die Euthanasieprogramme der Nazis maßgeblich war.

In den Überzeugungen und Einstellungen der Menschen wird der Grund gelegt für das, was im konkreten Fall geschieht. Achtung oder Missachtung des Lebens sind in der Gesellschaft stets geistig vorbereitet. Es ist die Aufgabe der Kirche, sich auch mit bizarren ethischen oder weltanschaulichen Ansätzen kritisch auseinander zu setzen und darin Anwalt für das Leben zu sein. Es gilt, die Augen offen zu halten, zu beobachten, zu warnen und sich kritisch in die Diskussion einzuschalten.

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Die Förderung von Wahrnehmungsfähigkeit, Problem- und Wertbewusstsein

Aufgabe der Kirchen ist es weiterhin, sich Kompetenz im Blick auf die Probleme der Menschen zuzulegen und für Problembewusstsein in der pluralen Gesellschaft zu sorgen.

Es ist immer wieder verblüffend, wie lautstark ohne ausreichende Problemkenntnis über den Lebensschutz diskutiert wird. So ist es eine bedrückende Erfahrung, wie etwa die Diskussion um die Frage der Spätabtreibungen geführt wird.

Wahrnehmungsfähigkeit und Problemkenntnis zu beweisen bedeutet, nahe bei den Menschen zu sein und ein Gespür für die Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit des Lebens zu entwickeln.

Aufgabe der Kirche ist es, zur Vermittlung von Werten und zu einem Wertbewusstsein in der Gesellschaft beizutragen. Bei der Frage des gemeinsamen Lebens von Behinderten und nicht Behinderten spielen die aktuellen Meinungen und Einstellungen in der Bevölkerung und die in der Kultur eines Volkes vorhandenen Überzeugungen und Wertorientierungen eine wichtige Rolle. Einstellungen sind nichts Statisches, sie können sich zum Besseren und zum Schlechteren wandeln. Darum sind Aktionen wie die Woche für das Leben und die Arbeit des Institutes, das heute hier mit veranstaltet, so wichtig. Mit unseren Argumenten, mit Erklärungen, mit Aktionen und Überzeugungsarbeit können Anstöße gegeben werden zu einem Umdenken in der Bevölkerung und zu einem größeren Bewusstsein für den Wert und die Verletzlichkeit des Lebens.

Sicherlich, wir müssen unsere Möglichkeiten sehr nüchtern sehen. Oft sind es ja Fakten und Ereignisse der Zeitgeschichte und nicht so sehr die guten Worte, die Einstellungen ändern und zu einem Meinungswandel in der Bevölkerung beitragen. Dennoch glaube ich, dass wir etwas ausrichten können. Wir können nachdenklich gewordene Menschen bestärken. Wir können Engagierte ermutigen. Wir können uns als Mitstreiter mit solchen zusammen tun, die vor einer besorgniserregenden Entwicklung warnen.

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5. Schlussbemerkung

,Gemeinsam mit Grenzen leben‘ – das Motto für die diesjährige Woche für das Leben fordert dazu auf, sich mit Gottes Kraft und Hilfe für das Leben einzusetzen, für die vielen Menschen die in ihrem Alltag Situationen der Einschränkung, Ausgrenzung und Mutlosigkeit erleben. Wer sich auf sie einlässt, erfährt aber auch, wie viele mit Stärke und Freude in der Gemeinschaft mit anderen leben können.

Gemeinsam sind wir Söhne und Töchter Gottes, Gottes Haushalter und Miterben Christi, und als solche wollen wir leben und Lebensbedingungen gestalten. Im Psalm 8 heißt es vom Menschen: „Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.“ (Vers. 6) Ich bin fest davon überzeugt, dass wir in der pluralen Gesellschaft in unserem Engagement für das Leben und für eine menschenwürdige Gesellschaft Mitstreiter und Bundesgenossen finden.

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Verzeichnis der Autorin und Autoren

Sebastian Barsch ist als Sonderschullehrer an einer Schule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung tätig. Promotion 2007 zu einem bildungshistorischen Thema. Lehrbeauftragter der Fachhochschule Köln.

Sigrid Graumann , seit 2009 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Oldenburg. Zuvor Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft, Berlin.

Manfred Kock , evangelischer Theologe; von 1980 bis 1997 Superintendent in Köln, von 1997 bis 2003 Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland und Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Markus Kurth , Mitglied des Deutschen Bundestages, seit Oktober 2002 sozial- und behindertenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen.

Hans-Walter Schmuhl , seit 2005 außerplanmäßiger Professor an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld; Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft.

LeRoy Walters , ,Joseph P. Kennedy, Sr. Professor‘ für Christliche Ethik am Kennedy Institute of Ethics und Professor der philosophischen Fakultät an der Georgetown-University in Washington D.C.; Wissenschaftlicher Beirat des Ethikzentrums Jena.

Bernward Wolf , Pastor und Sozialpädagoge, stellvertretender Vorsitzender des Vorstandes der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, Vorsitzender des Aufsichtsrates der Fachhochschule der Diakonie Bielefeld.

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IMEW Expertise 10

Helen Kohlen

Klinische Ethikkomitees und die Themen der Pflege

Vorwort: Hans-Walter Schmuhl

Übersetzung: Carola Pohlen

73 Seiten, 10,- €, November 2009

ISBN 978-3-9811917-1-4 / ISSN 1612-6645

Die Ethik im Gesundheitswesen steht vor historisch völlig neuartigen Herausforderungen. Den Klinischen Ethikkomitees kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Die Studie von Helen Kohlen wirft ein erstes helles Licht auf diese bisher kaum untersuchte Materie und lotet die Möglichkeiten und Grenzen dieser Komitees aus. Für ihre Arbeit, die anregt, über die Voraussetzungen, die Spielregeln und die Rahmenbedingungen medizinethischer Diskurse systematisch nachzudenken, wurde die Autorin mit dem IMEW Nachwuchspreis ausgezeichnet. Die Arbeit sei allen in Krankenhäusern – in der Pflege, im ärztlichen Dienst, in der Verwaltung, in der Seelsorge – tätigen Menschen (und nicht nur ihnen) wärmstens zur Lektüre empfohlen.

Dr. phil. Helen Kohlen ist Professorin (jun.) für Care Policy an der Fakultät für Pflegewissenschaft der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar. Sie studierte Anglistik und Lehramt im Gesundheitswesen in Osnabrück und den USA sowie Sozialwissenschaft an der Universität Hannover, wo sie als Stipendiatin der Hanns Lilje Stiftung promovierte. Als Soziologin arbeitet sie zu Themen der Biopolitik und Bioethik, Gender und Care- Arrangements in der häuslichen Pflege.

Die Übersetzung wurde von der Robert-Bosch-Stiftung gefördert.

Zu bestellen bei:

IMEW
Warschauer Str. 58a, D-10243 Berlin
Tel: +49 (0)30 / 29 38 17-70
Fax: +49 (0)30 / 29 38 17-80
E-Mail: info@imew.de

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IMEW Expertise

In dieser Schriftenreihe veröffentlichen wir Gutachten und Hand­reichungen, die im Auftrag des Institutes Mensch, Ethik und Wis­senschaft erstellt wurden. Bisher sind erschienen:

Marianne Hirschberg: Die Klassifikationen von Behinderung der WHO
IMEW Expertise 1, 2003
ISBN 3-9809172-0-7

Vera Kalitzkus: Biomedizin und Gesellschaft. Ein ethnologischer Blick auf die Biomedizin
IMEW Expertise 2, 2003
ISBN 3-9809172-1-5

Vanessa Lux: Die Pränataldiagnostik in der Schwangerenvorsorge und der Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik
IMEW Expertise 3, 2005
ISBN 978-3-9809172-7-8

Alexandra Manzei: Stammzellen aus Nabelschnurblut. Ethische und gesellschaftliche Aspekte
IMEW Expertise 4, 2005
ISBN 3-9809172-3-1

Marcus Düwell/Liesbeth Feikema: Über die niederländische Euthanasiepolitik und -praxis
IMEW Expertise 5, 2006
ISBN-10 3-9809172-4-X, ISBN-13 987-3-9809172-4-7

Christine Riegler: Behinderung und Krankheit aus philosophischer und lebensgeschichtlicher Perspektive
IMEW Expertise 6, 2006
ISBN 978-3-9809172-5-4 / ISSN 1612-6645

Anika Mitzkat, IMEW: Die Stellung von Angehörigen in der
Gesundheitsversorgung in Abhängigkeit von Dritten
IMEW Expertise 7, 2007
ISBN 978-3-9809172-6-1 / ISSN 1612-6645

Cordula Mock, IMEW: Stellungnahmen zur Pränataldiagnostik
IMEW Expertise 8, 2007
ISBN 978-3-9809172-8-5 / ISSN 1612-6645

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Impressum

Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW).

Selbstverlag

1. Auflage, Berlin 2009

IMEW Expertise ; 9

ISSN 1612-6645

ISBN 978-3-9811917-0-7

Lektorat: Susanne Diehr

Umschlaggestaltung: Ana-Tomia, Berlin

Druck und Verarbeitung: BWS Behindertenwerk gGmbH, Spremberg

© 2009 Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft gGmbH

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

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Fußnoten

Fußnoten: Die UN-Konvention und die Folgen für das Menschenbild – unentdeckte Seiten eines besonderen Menschenrechtsdokuments

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Fußnoten: Menschen mit Behinderungen im Spannungsfeld von Exklusion und Inklusion

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Fußnoten: Paul Braune und der Kampf gegen die Ermordung von Menschen mit Behinderungen

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Fußnoten: Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?! (Psalm 8)

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Fußnoten: Gemeinsam mit Grenzen Leben

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