Behindertenpolitik im aktivierenden Staat

Behindertenpolitik im aktivierenden Staat

Vortrag im Institut Mensch, Ethik, Wissenschaft am 02.12.2008 in der Reihe 'Friedrichshainer Kolloquium'

 

Dr. Michael Spörke

 

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“, so heißt es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die vor fast genau sechzig Jahren von den Vereinten Nationen beschlossen wurde.

Vor wenigen Tagen sagte Frau Bundeskanzlerin Angela Merkel an die Adresse geistig behinderter Menschen: «Sie gehören zur Gesellschaft.» Und daher, so Merkel weiter, seien integrierte Einrichtungen von Schule bis Beruf wichtig.

Ist also alles bestens um die Rechte und die Gleichstellung behinderter Menschen, im Sinne der Menschenrechtserklärung, in Deutschland bestellt?

Die Wahlperiode neigt sich dem Ende entgegen, so dass sich die Beantwortung dieser Frage und eine Betrachtung der Mechanismen und Interaktionen im Politikfeld der deutschen Behindertenpolitik seit 1998 lohnt.

Ich werde in meinem Vortrag darstellen:

1. Wie und mit welchen Mitteln die Behindertenverbände ihre Gruppeninteressen durchsetzen und wer dabei die wichtigsten Adressaten für die Verbandsforderungen sind.

und

2. Welche Struktur das besondere Policy-Feld Behindertenpolitik besitzt?

 

Inhalt:

1.      Historischer Rückblick

2.      1998: Behindertenpolitischer Wandel – Neuer Gerechtigkeitsbegriff und sozialpolitisches Aktivierungsparadigma

3.      Kontaktmechanismen im Netzwerk Behindertenpolitik

4.      Das sozialpolitische Aktivierungsparadigma und der einzelne Bürger

5.      Große Koalition – Quo vadis Behindertenpolitik?

 

 

Um die Bedeutung und Tragweite der heutigen Entwicklungen verstehen zu können, scheint mir zuerst ein kurzer Rückgriff auf die Geschichte der deutschen Behindertenbewegung notwendig.

Ihnen hier allerdings die Geschichte der Behindertenbewegung in ihrer Gänze vorzutragen, hieße in diesem Rahmen, Eulen nach Athen tragen, da ich davon ausgehe, dass Sie bereits viel hierzu wissen.

Deshalb erlauben Sie mir zumindest einige Schlaglichter zu benennen, um den Kontext der Entwicklung klarzustellen.   

 

Historischer Rückblick

Entscheidend ist bei diesem Rückblick die Tatsache, dass es nach dem 2. Weltkrieg im Nachkriegsdeutschland kaum Zivilbehinderte gab, bedingt durch die Vernichtung behinderter Menschen während der Naziherrschaft.

Erst Anfang der sechziger Jahre wird durch das BSHG die Bezeichnung "Behinderung" in den öffentlichen Sprachgebrauch eingeführt und es organisieren sich, neben den bestehenden Verbänden der Kriegsversehrten, die ersten neuen Verbände für behinderte Menschen, z.B. die Lebenshilfe.

Dann, Mitte der siebziger Jahre, politisierte sich die Behindertenbewegung zunehmend. Behinderte schlossen sich in Krüppelgruppen zusammen und wollten fortan nicht mehr „dankbar, lieb, ein bisschen doof und leicht zu verwalten“ sein.

Anfang der achtziger Jahre kommt es anlässlich der offiziellen Feierlichkeiten zum UNO-Jahr der Behinderten zu Protesten der Krüppelgruppen. Hier seien das  Krüppeltribunal und der Krückenschlag von Franz Christoph gegen Bundespräsident Carstens genannt.

Sie sehen, der Forderung nach Gleichberechtigung und Antidiskriminierung wurde damals vor allem mit Mitteln des Protestes und des zivilen Ungehorsams Ausdruck verliehen. Dies steht im Einklang mit anderen Bürgerrechtsbewegungen der damaligen Periode, ich erinnere nur an die Proteste zur Startbahn West in Frankfurt, die Anti-AKW und die Friedensbewegung.  

Der Ruf nach Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsgesetzen für behinderte Menschen war von Anfang an eine Hauptforderung dieses neuen behindertenbewegten Selbstbewusstseins.

Um dieser Forderung größere Schlagkraft zu geben, trat Anfang der neunziger Jahre die Behindertenbewegung in einen neue Etappe im politischen Prozess ein.

Neben dem Protest auf der Straße und provokativen Aktionen, die nötig waren, um Aufmerksamkeit zu erhalten, kam Anfang der neunziger Jahre ein verstärktes, auch verbandsübergreifendes, Agieren auf politischer Ebene dazu.

So unterzeichneten 1991 Vertreter verschiedener Behindertenorganisationen den  Düsseldorfer Appell für eine Grundgesetzänderung sowie Landes- und Bundesgleichstellungsgesetze.

Nachdem auch international mit den von den Vereinten Nationen verabschiedeten Rahmenbestimmungen für die Herstellung von Chancengleichheit für Menschen mit Behinderungen die Dinge in Gang kamen, führte die Bündelung der behindertenpolitischen Kräfte 1994 schließlich zum ersten großen Erfolg in der deutschen Behindertenpolitik mit dem in der neuen gesamtdeutschen Verfassung eingefügten Paragraphen "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" (Art. 3, Abs. 3, Satz 2).

Beflügelt durch diesen Erfolg  ging 1997 die außerparlamentarische Arbeit für ein Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) in die nächste Runde. Unterstützt von der Lotterie Aktion Mensch schlossen sich über 100 Behinderten- und Wohlfahrtsverbände zusammen und forderten in der bundesweiten Aktion Grundgesetz die Schaffung eines Gleichstellungsgesetzes.

 

1998: behindertenpolitischer Wandel – Neuer Gerechtigkeitsbegriff und sozialpolitisches Aktivierungsparadigma

Kurz darauf waren mit dem Rot-Grünen Regierungswechsel 1998 erstmals politische Mehrheiten vorhanden, um die Forderungen der Behindertenbewegung in die Realität umzusetzen. Es entstanden das erste Landesgleichstellungsgesetz, das SGB IX und das Behindertengleichstellungsgesetz auf Bundesebene.  

Aber warum erst jetzt? Lag doch der Düsseldorfer Appell bereits einige Jahre zurück.

Zum einen war das Thema Antidiskriminierung Behinderter, wie ich bereits dargestellt habe, nun auch europaweit und international aktueller.

Zum anderen findet man eine Antwort auf diese Frage, wenn man sich verdeutlicht, dass Zugangschancen einer sozialen Bewegung zur politischen Entscheidungsfindung „bestimmt sind durch die direkte Zugänglichkeit der verschiedenen Institutionen des Staates, zum anderen aber auch durch die Zugänglichkeit von Parteiensystem und Verbandssystem“. Die Zugangs- und Durchsetzungschancen von Verbänden sind deshalb „abhängig von den Machtkonfigurationen in den verschiedenen Teilbereichen des politischen Systems“.

In den neunziger Jahren waren die Forderungen nach einem BGG noch nicht auf die erhoffte Zustimmung bei der von CDU und FDP geführten Bundesregierung gestoßen und entsprechende Anträge der damaligen Oppositionsparteien SPD und Bündnis 90/Die Grünen blieben ohne durchschlagende politische Wirkung. Gleichstellung und Antidiskriminierung standen noch nicht auf der Agenda der politischen Mehrheiten. Das heißt, die Zugangs- und Durchsetzungschancen waren unter diesen politischen Mehrheiten  begrenzt.

Ganz anders war die Situation nach der Bundestagswahl 1998.

Während der ersten Legislaturperiode der rot-grünen Regierung  war zum einen der politische Wille in Politik und Verwaltung da, Gesetze zu schaffen, die die langjährigen Forderungen der Behindertenbewegung umsetzen, und zum anderen waren die Behindertenverbände durch ihr jahrelanges Streiten für Gleichstellung und die Bildung des Deutschen Behindertenrates auf diese Situation vorbereitet. Sie konnten die ihnen gegebenen Mitwirkungsmöglichkeiten deshalb auch ausschöpfen.

Insbesondere in den emanzipatorischen Gesichtspunkten der Chancengleichheit und Gleichberechtigung von Mann und Frau, gleichgeschlechtlichen Lebensweisen und auch von Menschen mit Behinderungen unterscheidet sich denn auch die rot-grüne Politik am meisten von der Linie der Vorgänger-Regierungen und der Nachfolge-Regierung.

Im rot-grünen „Projekt“ stand die „bürgerliche Liberalisierung und eine minderheitensensible Politik auf der Agenda“. So gab es ein „kohärentes rot-grünes Profil […] in erster Linie bei den gesellschaftspolitischen Themen der Innen- und Rechtspolitik“.

Vor allem Bündnis 90/Die Grünen waren hierbei ein wichtiger fördernder Faktor für die Behindertenverbände. Die Gründe hierfür sind unter anderem darin zu suchen, wie Christoph Egle richtig feststellt, dass man die grüne Idee von Gerechtigkeit unter einem erweiterten Begriff der Gerechtigkeit fassen kann, der im Gegensatz zu dem alten, sozialdemokratischen Gerechtigkeitsbegriff nicht blind ist gegenüber nicht-ökonomischen Beschädigungen der personalen Integrität, wie z.B. durch Benachteiligung eines Menschen aufgrund der Herkunft, des Geschlechts, der Hautfarbe, der sexuellen Orientierung oder eben der Behinderung. So forderten die Grünen bereits in den 80er Jahren eine auf Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Gleichstellung beruhende Sozialpolitik. In einer solchen Sozialpolitik sollten dezentrale kleine Netze und Selbsthilfeinitiativen gestärkt werden.

Der Politikwechsel nicht nur in der Behindertenpolitik wurde aber auch schon dadurch vereinfacht, dass zum ersten Mal „ein Regierungswechsel durch eine Wahl und nicht durch einen Koalitionswechsel einer Partei herbeigeführt“ wurde, und „erstmalig wurde eine Regierung gebildet, der keine Partei angehörte, die schon Teil der vorangegangenen Regierungskoalition gewesen war.“

Mit  Bündnis 90/Die Grünen regierte dabei außerdem zum ersten Mal „eine Partei, deren historische Wurzeln nicht bis in das 19. Jahrhundert zurückreichen, sondern die ein ausschließliches Kind der Bundesrepublik ist.“ Deshalb konnte hier ein „höheres Ausmaß an Politikwechsel vermutet werden als bei den bisherigen Regierungen“, was am Beispiel der Behindertenpolitik auch nachgewiesen werden kann.

SPD und Grüne sahen in ihrer Sozialpolitik ab 1998 eine „Neuausrichtung der gesamten Sozial- und Gesellschaftspolitik“.

Das Schlagwort der rot-grünen Regierung vom aktivierenden Sozialstaat traf zusammen mit den emanzipatorischen Zielen der Behindertenbewegung.

Was ist nun unter dem Modell des aktivierenden Staates zu verstehen?

Das 1999 von der Bundesregierung veröffentlichte Leitbild „Moderner Staat –Moderne Verwaltung“ formulierte die Ziele des aktivierenden Staates wie folgt:

- die Selbstregulierungskräfte der Gesellschaft stärken;

- Ehrenamt, Bürgerengagement und Gemeinwohlorientierung fördern;

- die Eigenverantwortung des Einzelnen aktivieren und stärken, um ihn so an seine

Pflichten zu erinnern;

-Bürgerbeteiligungsrechte an politischen und administrativen Entscheidungen weiterentwickeln;

- effizientes Verwaltungshandeln und Verwaltungsorganisation durch Wettbewerb und Leistungsvergleiche befördern;

- ein neues Prinzip der Verantwortungsteilung etablieren, das den Staat zum Moderator und Impulsgeber der gesellschaftlichen Entwicklung macht, der mit staatlichen, halbstaatlichen und privaten Akteuren kooperiert, um gemeinsame Ziele zu erreichen.

Grundlegende Aussage des aktivierenden Staates ist, dass die Gesellschaft gefordert und gefördert werden soll, Aufgaben selbst wahrzunehmen. Die anvisierte „Bürgergesellschaft“ soll durch den Staat allenfalls nur noch koordiniert werden, um negative Effekte auszuschließen.

Die Begrenzung der staatlichen Regulierung soll zugunsten gesellschaftlicher Kräfte (der Einzelne, Gruppen, Verbände) erfolgen und deren Aktivitäten unterstützt werden, wenn sie, und das ist entscheidend wichtig, der Ausrichtung der politischen Mehrheit entspricht.

Der Staat ist dann weniger Entscheider und Produzent, als vielmehr Moderator und Aktivator der gesellschaftlichen Entwicklungen, die er nicht allein bestimmen kann und soll. Aktivierender Staat bedeutet, die Selbstregulierungspotentiale der Gesellschaft zu fördern und ihnen den notwendigen Freiraum zu schaffen. Angewendet auf das hier zu beleuchtende Feld der Behindertenpolitik waren Entstehung und Inhalte des BGG eine direkte Folge dieses neuen Politikverständnisses.

Das BGG beinhaltet einige Artikel, die den Behindertenverbänden neue Handlungsspielräume eröffnen sollten, um selber an der Verwirklichung der Gleichstellung Behinderter mitzuwirken.

So regelt das BGG, dass die Behindertenverbände mit Unternehmen oder Unternehmensverbänden Zielvereinbarungen über die Herstellung von Barrierefreiheit bei den Angeboten, Produkten und Dienstleistungen dieser Unternehmen abschließen können. Dabei haben die Verbände einen Rechtsanspruch darauf, dass Verhandlungen mit ihnen aufgenommen werden, jedoch nicht darauf, dass auch eine Zielvereinbarung abgeschlossen wird (§ 5).

Für die Behindertenverbände sind die Paragraphen 12 und 13 von besonderer Bedeutung, wird in ihnen doch geregelt, dass Verbände in Vertretung behinderter Menschen, die in ihren Rechten laut dem BGG verletzt sind, vor Gericht auftreten können. Dabei können die Verbände auch dann eine Verletzung von Rechten behinderter Menschen aus dem BGG und einiger anderer Regeln einklagen, wenn (noch) keine bestimmte Einzelperson betroffen ist oder wenn mehrere betroffen sind.

Die Verbände bekamen also mit den Zielvereinbarungen und der Verbandsklage neue Instrumente an die Hand und sollten so aktiviert werden, die Gleichstellung behinderter Menschen aktiv mitgestalten zu können.

Von Anfang an waren die Behindertenverbände, und hier insbesondere das Forum der behinderten Juristinnen und Juristen, auch in den Entstehungsprozess des Gesetzes eingebunden. So wurde bereits im Juli 1999 auf einer Klausurtagung der Koalitionsarbeitsgruppe Behindertenpolitik über die Ideen des Forums zu einem Gleichstellungsgesetz diskutiert.

Am 8. Januar 2000 übergab das Forum der behinderten Juristinnen und Juristen den Entwurf eines BGG an den Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen. 

Eine vom BMAS eingerichtete Projektgruppe, bestehend aus Vertretern des BMAS, der Verbände, der Bundesländer und Kommunen und des Behindertenbeauftragten sollte dann auf der Grundlage des überarbeiteten Gesetzentwurfes des Forums behinderter Juristinnen und Juristen den Entwurf eines BGG erarbeiten, der mit dem „Innen- und Justizressort sowie den Bundesministerien für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und für Bildung und Forschung abgestimmt werden sollte.“  Die Koalitionsarbeitsgruppe Behindertenpolitik beschloss als Verbandsvertreter Mitglieder des Forums der behinderten Juristinnen und Juristen in die Arbeitsgruppe aufzunehmen. Unter der Leitung des damaligen Behindertenbeauftragten begleiteten Werkstattgespräche und Diskussionsrunden die Entwicklung des Gesetzentwurfes.   

Man bezog das Forum aber nicht nur in die Arbeit der Projektgruppe ein, sondern beschäftigte auch ein Mitglied des Forums für die Zeit des Gesetzgebungsverfahrens im Ministerium. Dies ist eine ungewöhnliche und „besonders intensive Art der Mitwirkung von gesellschaftlichen Interessengruppen“. 

Da in diesem Gesetzgebungsverfahren Vertreter der Behindertenverbände institutionalisiert, d.h. durch die Mitarbeit in der Arbeitsgruppe und die Beschäftigung eines Vertreters des Forums der behinderten Juristinnen und Juristen gleichberechtigt gegenüber den anderen Mitwirkenden und freiwillig einbezogen wurden, kann man diese Art von Beteiligung der Verbände als korporatistische Beteiligung im Lehmbruch`schen Sinne ansehen. Die Zusammenarbeit zwischen Forum und BMAS ist ein Beispiel für den korporatistischen Paradigmenwechsel, wo es nicht nur einen „Druck der Verbände, sondern auch ein Ziehen des Staates gibt“. Durch das Vorgehen im Gesetzgebungsverfahren für das BGG wurden die Behindertenverbände, „in starkem Maße unmittelbar in Entscheidungsprozesse eingebunden“; die Verbände halfen so dem Staat durch ihre Beteiligung bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben, in dem Fall, der Forderung nach Gleichstellung behinderter Menschen nachzukommen.

Der Nutzen einer solchen Kooperation liegt für die Verbände darin, dass sie dadurch „ihre Einflusssphäre und gesellschaftliche Bedeutung erhöhen können, den Bestand ihrer Organisationen sichern“ und „ihren Einfluss auf staatliche Politik vergrößern“. Der Staat wiederum entlastet sich durch die „kooperativ-verbandliche Ordnung“, indem Verbände eigenverantwortlich gesellschaftliche Bereiche steuern und dadurch staatliche Legitimationsdefizite verringern.

Die intensive Mitwirkung der Behindertenverbände, insbesondere des Forums der behinderten Juristinnen und Juristen, kam auch während der Verabschiedung des Gesetzes im Bundestag zum Ausdruck. So saßen die beiden Vertreter des Forums, die an der Gesetzesentstehung federführend mitgearbeitet hatten, während der Bundestagsdebatte als Gäste neben der Regierungsbank.

Man hatte ein Gesetz verabschiedet, das von den Betroffenen mehrheitlich akzeptiert wurde. Dass dies nicht ohne Probleme für die Verbände ist, zeigt sich daran, dass die neuen Instrumente Zielvereinbarung und Verbandsklage noch nicht die Wirkung entfaltet haben, die sie sollten.

 

Kontaktmechanismen im Netzwerk Behindertenpolitik

Die deutsche Behindertenpolitik entspricht dem Modell einer Policy Community, da der Kreis der Beteiligten und die Beziehungen zwischen den Beteiligten klar abgrenzbar zu anderen Politikfeldern ist. Auch besteht eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Akteuren, die ihre Zusammenarbeit durch Informationsaustausch, Verhandeln, Koordination und Kooperation organisieren. Es gibt sowohl pluralistische als auch korporatistische Beteiligungsstrukturen im Politikfeld Behindertenpolitik, die in einem Beteiligungsnetzwerk zwischen Verbänden sowie politischen und institutionellen Akteuren je nach Bedarf ausgebildet werden. Da die Interaktion in Netzwerken weniger formalisiert ist als im rein korporatistischen System, kann die Beteiligung von einzelnen Verbänden „stark variieren“. Entscheidend ist hierfür die fachliche Kompetenz der einzelnen Verbände. Die beteiligten Verbände versuchen, auf allen gesetzgeberischen Ebenen und gegenüber der Exekutive Einfluss auszuüben. Die Qualität der Ergebnisse hängt dabei entscheidend „von der Problemlösungs-Orientierung und Konsensfähigkeit der Beteiligten ab“.

Der Behindertenbeauftragte wurde in der rot-grünen Regierungszeit zum Knotenpunkt im Netzwerk der Behindertenpolitik, indem er die Vermittlerstelle zwischen Verbänden und Regierung einnimmt. Der Behindertenbeauftragte hat dabei in einem solchen Netzwerk die Möglichkeit, Entwicklungen anzuschieben und er kann durch seine Entscheidungen mitbestimmen, welche Verbände wieviel Einfluss auf politische Prozesse haben. So wurde deutlich, dass gerade die Förderung der Behindertenverbände durch den Behindertenbeauftragten die Tür zu größerer Mitbestimmung und Mitgestaltung der Verbände geöffnet hat. 

Dass den Bundesministerien für die Lobbyarbeit der Verbände eine größere Bedeutung zugeschrieben wird als den Fraktionen der Regierungsmehrheit, ist ein weiteres wichtiges Kennzeichen des Netzwerkes. Die Mechanismen in der Behindertenpolitik stehen hier im Einklang mit den bisherigen Studien zur Arbeit von Verbänden.     

Die Zusammenarbeit von Ministerialbürokratie und Interessenverbänden kann eine Chance auf eine bessere „Passfähigkeit neuer Gesetze auf die gesellschaftliche Realität“ sowie auf einen „Zuwachs an Information für die Bürokratie“ sein.

Das erhöht die Fähigkeit der Bürokratie zum Agendasetting, da die Problemwahrnehmung ebenso wie die Lösungsentwicklung „durch die Möglichkeit des Zugriffs auf Expertisen von Fachverbänden“ erhöht wird, wie auch an behindertenpolitischen Gesetzgebungsverfahren deutlich wurde.

Verbände, und damit auch die Behindertenverbände, stehen dem Staat zur Lösung von Problemen zur Verfügung und werden gleichzeitig vom Staat „für die Gestaltung und Umsetzung politischer Vorhaben in Dienst genommen“.

Die Kontakte in das Parlament beschränken sich in aller Regel auf die behindertenpolitischen Sprecher und Sprecherinnen und die Mitglieder der Ausschüsse für Gesundheit und Soziales. Dies zeigt, dass Behindertenpolitik noch nicht als politische Querschnittsaufgabe angesehen wird, sondern  meist beschränkt bleibt auf den sozial- und gesundheitspolitischen Bereich.

Behindertenverbände nehmen aktiv an der politischen Entscheidungsfindung teil, was sich gleichsam als Tauschgeschäft zwischen Verbänden und politischen Akteuren äußert. Die Verbände können hierbei vor allem Fachinformationen, Steuerungspotenzial und Legitimationsressourcen im Tausch zur Einlösung ihrer Forderungen und der Informationslieferung durch Politiker und Ministerien anbieten.

 

Der aktivierende Staat und der einzelne Bürger

Als Bestandteil der Konzeption des aktivierenden Staates hat sich in der zweiten rot-grünen Legislaturperiode durch die „Hartz-Gesetzgebung“ (Reform der Arbeitsverwaltung, Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, Reform der Sozialhilfe) allmählich auch die Kontur einer neuen Sozialstaatlichkeit herausgebildet. Die neue Sozialpolitik des „Forderns und Förderns“ hat damit ein Gesicht bekommen und bildet die zweite Achse im Konzept des aktivierenden Staates. Nicht nur die Verbände  und Interessengruppen sollten mehr Verantwortung übertragen bekommen und Mitspracherechte haben, sondern auch der einzelne Bürger soll stärker in die Verantwortung genommen werden. 

Im bisherigen Sozialsystem waren die elementaren Sicherungsrechte nicht an erworbene Ansprüche oder irgendwelche zu leistenden Gegenleistungen gekoppelt.

Weltweit lässt sich beobachten, wie der Wohlfahrtsstaat alter Prägung verändert und umgebaut wird und immer häufiger arbeitsmarkt- sowie wirtschaftspolitische Zielsetzungen die Sozialpolitik leiten. Die unbedingte Verpflichtung zur Arbeit beim Bezug von Lohnersatzleistungen, der Auf- und Ausbau eines Niedriglohnsektors, Überlegungen zur Ausdehnung des sozialen Dienstleistungssektors auf finanziell niedrigem Niveau sowie die Indienstnahme der Sozialen Arbeit zur Wiederherstellung der Beschäftigungsfähigkeit bestimmen die Sozialpolitik in allen europäischen fortgeschrittenen Wohlfahrtsstaaten.

 

Große Koalition – Quo vadis Behindertenpolitik ?

Hat nun die Große Koalition diesen Prozess des Aktivierens fortgesetzt?

Die Behindertenverbände verbanden mit dem Regierungswechsel die Hoffnung nach Kontinuität in der Zusammenarbeit mit dem politischen System. So hieß es in einer Pressemeldung eines Behindertenverbandes, die neue Regierung und deren Behindertenbeauftragte dürfe „nicht hinter die Kultur der konsequenten Beteiligung und gemeinsamen Politikgestaltung mit behinderten Menschen, sowie für ein engagiertes Streben nach Gleichstellung und sozialer Gerechtigkeit zurückfallen.“

Die bisherige  Bestandsaufnahme erzeugt jedoch ein etwas anderes Bild: Die Behindertenrechtskonvention (BRK) wurde zwar im Oktober endlich vom Bundeskabinett beschlossen und so der Weg zur Ratifizierung wohl noch in diesem Jahr geebnet, die Übersetzung ist jedoch in einigen wichtigen Punkten fehlerhaft und die Denkschrift der Bundesregierung wird von den Verbänden sehr kritisch gesehen.

Die Bundesregierung hat bisher eine ablehnende Haltung gegenüber einer
Europäischen Antidiskriminierungsrichtlinie und das im Koalitionsvertrag angekündigte Gesamtkonzept der Betreuung und Versorgung pflegebedürftiger, älterer und behinderter Menschen gibt es bisher nicht. Damit seien nur einige aktuelle behindertenpolitische  Themen benannt.

Insgesamt ist die Zusammenarbeit zwischen Betroffenenverbänden und Bundesregierung in der Zeit der Großen Koalition deutlich verändert. Die Interaktionen im Policy Community Behindertenpolitik haben an Intensität verloren und die Position des Amtes des Behindertenbeauftragten als Knotenpunkt in diesem Netzwerk ist deutlich geschwächt.    

Vom Modell des aktivierenden Staates bleibt so fast, mit einigen Ausnahmen, nur mehr der Umbau der Sozialsysteme, der auch mit Nachteilen für Behinderte verbunden ist:

Beispielhaft seien hier genannt: schlechtere Versorgung mit Hörgeräten bei hörgeschädigten Hartz IV-Empfängern und schlechtere ärztliche Versorgung von Hartz IV-Empfängern durch Ärzte.

Hier droht – wenn nicht auch die Beteiligung der Betroffenen im Politikprozess wieder intensiviert wird – die schleichende soziale Ausschließung behinderter Menschen. Das politisch Erreichte sollte deshalb nicht zum Ausruhen verleiten, denn von einem wirklichem Disability Mainstreaming, in dem Behindertenpolitik als ressortübergreifendes Menschenrechtsthema erkannt wird, sind wir noch ein gutes Stück entfernt.