Manfred Kock, Präses i. R.

Vortrag zur Woche für das Leben (IMEW und Gemeinden in St. Marien Berlin) am 27. April 2009

Gemeinsam mit Grenzen leben

Die Woche für das Leben erinnert in diesem Jahr an die grundlegende ethische Verpflichtung von Christinnen und Christen, sich mit kranken und behinderten, mit sterbenden und verzweifelten Menschen zu solidarisieren. Der Glaube befähigt nicht nur, sich leidenden Menschen zuzuwenden. Er hilft auch, einen nüchternen Blick dafür zu entwickeln, dass für Behinderte geeignete äußere Rahmenbedingungen und zweckmäßige Strukturen geschaffen werden und dafür genügend Geld zur Verfügung steht. Denn diese Grundlagen für Pflege und Hilfe fallen nicht vom Himmel. Gemeinschaftliche Unterstützung ist notwendig, damit denen, die auf fremde Hilfe angewiesen sind, ein menschenwürdiges Leben ermöglicht wird.

Unsere plurale Gesellschaft lebt nicht wertneutral. Es gibt in den unterschiedlichen weltanschaulichen Lagern und bei den Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungen in großem Maß ,ethische Ressourcen‘, für die wir dankbar sind. Vieles von diesen Auffassungen steht im Zusammenhang mit den geistigen Wurzeln Europas und wurde von christlichen Grundüberzeugungen und in Auseinandersetzung mit Ihnen geprägt. Auch andere wissen darüber Bescheid, was verbindlich für alle sein muss, – nicht nur die Christen. Die Woche für das Leben ist daher nicht nur eine Bewegung der Kirchen, sie ist auch Impuls für die Gesellschaft insgesamt. Gemeinsam mit Grenzen leben heißt, denen, die nicht für sich selbst sorgen und eintreten können, Hilfe, Raum und Stimme zu geben und zugleich von denen, die behindert sind, den anderen Blick zu lernen und ihre Möglichkeiten wertzuschätzen.

Die Geschichte vom blinden Bartimäus

Das will ich nun an einer biblischen Gestalt entfalten, dem blinden Bartimäus. Er soll Exempel auch für Menschen mit anderen Behinderungen sein, für Gelähmte, Hörgeschädigte, psychisch Erkrankte, geistig Behinderte, dement Gewordene – kurz für alle, die wegen einer Behinderung mit Nachteilen und Ausgrenzungen zu leben haben.  

Die Geschichte vom blinden Bartimäus steht im Markusevangelium (Mk 10, 46-52). Bartimäus schreit, als er hört, dass Jesus vorbei kommt und mit ihm die Botschaft von einer neuen Gerechtigkeit. Was er von dem Wanderprediger und Wunderheiler aus Galiläa hat erzählen hören, davon will er sich eine eigene Vorstellung machen. Und er will, was er bisher nie konnte: Er will sehen. Und ,sehen‘ heißt: den Blick für die eigene Würde gewinnen, sich als gleichwertigen Menschen erleben, anderen ins Gesicht blicken können und ihren Respekt erfahren.

Bartimäus schreit. Er will sich nicht mehr begnügen mit der Hilfe, die ihm die Familie, die Nachbarn, die Freunde bisher haben angedeihen lassen. Bartimäus, der in so vielen Alltagsdingen auf die Pflege und Unterstützung anderer angewiesen ist, tut etwas Eigenes: Bartimäus schreit.

Den anderen ist das peinlich. Sie versuchen, ihn zu beruhigen. Vergeblich. Er will die Zuwendung Jesu unbedingt. Jahrelang hatte er sich ohne Murren seinen Platz anweisen lassen. Nun fällt er auf einmal aus der Rolle. Der bislang so pflegeleichte Bettler wird lästig.

Bartimäus hat einen festen Platz zum Betteln am Stadttor, das war sein Arbeitsplatz. Er will aber mehr als Mitleid und mehr als freundliche Almosen. Er will sehen. Er will teilhaben am Ansehen, das jedem Nichtbehinderten gewährt wird, er will Anteil am selbstbestimmten Leben.

So sicher der Blinde dessen ist, was er braucht, so verunsichert sind die, die ihm dazu verhelfen müssten. Doch sie, die ihn von Jesus fernzuhalten suchen, erweisen sich als die eigentlich Behinderten, Unsensiblen, Uneinsichtigen. Ihnen müssten erst einmal die Augen aufgehen für die eigene Beschränktheit. Damit sich für Bartimäus und seine Leidensgenossen etwas bessern kann, müssen auch die Gesunden von den Einschränkungen ihres Gesichtsfelds geheilt werden.

Offenbar gerät mit dem Auftreten Jesu das ganze Rollenspiel von gesund und krank, stark und schwach, gerecht und ungerecht, behindert und normal durcheinander. Jesus teilt nicht die Bedenken seiner Predigthörer, die meinen, sie müssten dem Rabbi die Begegnung mit diesem Predigtstörer ersparen.

Wie so oft bei Begegnungen zwischen Jesus und den Außenseitern ereignet sich das Wunderbare schon vor dem eigentlichen Wunder: Der zur Erfolglosigkeit Verdammte hat Erfolg. Der auf fremde Hilfe angewiesen war, ändert seine Lage auch mit dem Einsatz eigener Kräfte: Er springt auf und geht auf Jesus zu. Der wendet sich seinerseits dem Rufenden zu und fragt ihn: „Was kann ich für dich tun?“

Behinderte und andere Pflegebedürftige leben bei uns nicht mehr unter den Bedingungen des Bartimäus. Doch alle Analysen, Studien und Berichte nennen Pflegebedürftigkeit ausdrücklich als eines der Armutsrisiken. Behinderte und Pflegebedürftige haben Rechte, und sie brauchen die Solidarität der anderen, damit Menschenwürde nicht Schaden nimmt und damit sie Lebensqualität gewinnen.

Pflegebedürftige sind keine Bettler wie Bartimäus. Aber der war damals innerhalb seines Gefüges durchaus versorgt. Er wurde zum Erwerb seines Lebensunterhalts selber mit herangezogen. Und er gab den anderen noch mit seiner Dankbarkeit und seinen Segenswünschen das Gefühl, etwas Gutes getan zu haben. Das ist nicht nichts.

Aber das eigentliche Leid seiner Lage war dieses: alles das geschah auf Kosten seiner Würde. Offenbar kam niemand auf den Gedanken, den Betroffenen selber zu fragen: „Was kann ich für dich tun?“

Dabei ist diese Frage, wie Jesus sie stellt, so nötig. Denn sie nimmt die Kompetenz des Pflegebedürftigen für seine eigene Lage ernst. Niemand weiß besser, was es heißt, mit Einschränkungen zu leben, als die Betroffenen selber. Wenn so nicht gefragt wird, wenn die anderen, die ,Normalen‘ besser wissen, was der Leidende braucht, dann passiert schnell, was in unserer Geschichte von Bartimäus in der Abwehr des schreienden Bettlers eine Rolle spielt: Die bloß Almosen geben, wehren weitere Verpflichtungen ab. Sie versuchen mit vorgeblich guten Gründen den Protest des Blinden zu unterdrücken, lassen ihn nicht nur im Dunkeln, sondern wollen ihn auch noch zusätzlich stumm machen.

Vieles wird heute aufgeboten, um Behinderten und Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen plausibel zu machen, dass ihre Anspruchshaltung im Blick auf den Erhalt von hohen Pflegestandards unbezahlbar ist. Gerade angesichts der weltweiten Finanzkrise werden die wirklich Bedürftigen unüberhörbar auf weitere Einschränkungen vorbereitet. Da ist schon jetzt aus dem Pflegesatz gerade das herausgekürzt, was mit der Menschenwürde ganz unmittelbar zu tun hat: die Zeit für Zuwendung.

Jeder, der etwas von Kindern versteht, weiß, dass sich die meisten Erziehungsprobleme lösen lassen, wenn man sich dem Kind zuwendet. Jede Pflegekraft weiß, dass mit den Patienten oder Angehörigen geredet werden muss, damit sie in hilfloser Lage nicht aggressiv oder lethargisch werden. Zuwendung ist der Schlüssel für wunderbare Verwandlungen. Warum zählt das nicht in den Katalogen der Leistungsbemessungen?

Jesus, der Blinden die Augen öffnet, will uns an den Einsichten des Bartimäus teilhaben lassen. Die Gesunden erkennen bei genauerem Hinsehen, dass sie die heilende Gerechtigkeit aus Gottes Hand ebenso brauchen, wie die sichtbar vom Unheil betroffenen.

Und noch anderes sagt uns die Geschichte: Schreien ist erlaubt, ja geboten. Es ist den Blinden erlaubt und geboten, Gott in den Ohren zu liegen, auch mit ihren unerfüllbaren Sehnsüchten. Schreien ist erlaubt und geboten angesichts der sozialpolitischen Krämerseelen und finanzpolitischen Erbsenzähler, die sagen: „Das geht nicht, was ihr euch da vorstellt, wer soll das alles bezahlen?“

In der Geschichte von Bartimäus dreht Jesus die Logik der Notwendigkeiten um: Nicht der, bei dem es die Augen nicht tun, sondern der, dem die Phantasie erblindet, ist behindert. Verrückt ist nicht Bartimäus, der das Unmögliche will, verrückt sind die, die vor dem Problemberg resignieren: Arm ist nicht der Bettler, sondern die, die keine Vision von Gerechtigkeit und Menschlichkeit haben.

Am Ende kommt die Erkenntnis: Selbst bei einem – im wahrsten Sinn des Wortes – ,aussichtslosen‘ Fall wie Bartimäus ist mehr drin, als alle glauben. Die Begegnung mit Jesus macht das sichtbar für den Betroffenen und die Zuschauer, die das Wunder beobachten, und für die Zuschauer der Zuschauer, also für uns. Uns dürfen die Augen aufgehen dafür, wie einer berührt wird und neues Leben erfährt.

Das ist die Botschaft Jesu! Darin liegt der Sinn seines Lebens und seines Mitleidens, seines Sterbens und seiner Auferstehung.

„Was willst du, daß ich für dich tun soll?“

Pflegebedürftige und ihre Angehörigen brauchen Ermutigung, und eine Gesellschaft, die auch in Zukunft Menschen würdig zu pflegen hat, braucht die Vision von der neuen Gerechtigkeit, damit heute und auch morgen noch Herz und Hand und Vernunft und Gewissen so zusammenwirken, dass das wirklich ,Not-Wendige‘ geschieht für die, die auf fremde Hilfe angewiesen sind.

Dieser Sicht von gesellschaftlicher Verantwortung liegen Wertentscheidungen zu Grunde, die gewiss christliche Wurzeln haben. Ein großer Teil der Menschen in unserem Lande fühlt sich darauf jedoch nicht ohne weiteres verpflichtet. Wird es also in einer pluralen Gesellschaft nur eine Sache von Mehrheitsentscheidungen sein, gemeinsam mit Grenzen, also auch mit Behinderungen zu leben? Oder ist es – Mehrheiten hin, Mehrheiten her – Pflicht des Gemeinwesens, das Handeln an Grundwerten zu orientieren, die nicht je nach Stimmung zur Disposition stehen? Es gibt bei aller Pluralität in der Gesellschaft zumindest Grundzüge eines Konsenses darüber, dass gemeinsame Verantwortung getragen werden muss. Es gibt ,Koalitionen der Menschen guten Willens‘ in der pluralen Gesellschaft.

Allerdings steht die Gesellschaft immer wieder vor schwierigen Herausforderungen. Durch neue Entdeckungen, wie zum Beispiel die Entschlüsselung weiterer Details der menschlichen Gen – Struktur werden neue Vorhersagen über mögliche Krankheitsdispositionen möglich. Das verändert die Bewusstseinslage der Menschen. Da gibt es Staunen und Begeisterung über die Entdeckungen, und zugleich wächst auch die Befürchtung, wie unter diesen Umständen Leben noch zu schützen sei – vor allem, wenn es den Idealmaßen nicht entspricht. Zweifellos hat genauere Diagnostik im vorgeburtlichen Stadium die Haltung zu behindertem Leben verändert.

Die ethische Herausforderung in der ,pluralen‘ Gesellschaft

In den Fragen des Umgangs mit Behinderten und des Lebensschutzes sind die Kirchen keine ohnmächtigen Diskussionspartner der pluralen Gesellschaft; ihre Argumente werden nicht immer, aber doch immer wieder gehört, und der Versuch der Kirchen, Politik möglich zu machen, ist nicht selten erfolgreich.

Die Diskussionslage heute hat sich gegenüber der Grundwertediskussion in den siebziger Jahren gewandelt. Damals ging es um die Frage: „Wie christlich ist dieser Staat und wie weit ist er noch bereit, christliche Überzeugungen in Gesetzen und im Regierungshandeln zu berücksichtigen?“ Heute geht es eher um die Frage: „Wie können wir mit Gottes Hilfe in der pluralen Gesellschaft für Wert und Würde des Menschen eintreten, wie können die Kirchen sich mit ihrem Engagement und ihren guten Argumenten für das Leben einsetzen und dabei Bundesgenossen finden?“

Nicht die Pluralität unserer Gesellschaft scheint mir das Problem zu sein, wenn es um die Rechte von Behinderten geht. Es geht vielmehr um die besondere Ausrichtung bestimmter Überzeugungen.

Da treten Interessen in den Vordergrund, die das technisch Machbare rein aus wirtschaftlichem Interesse machen wollen.

Da gewinnen Konzepte die Oberhand, die Starken zu fördern und die Schwachen zu benachteiligen. So sehr unsere Gesellschaft Interesse daran haben muss, dass Hochbegabte gefördert werden, so schädlich wird es, wenn dabei die Selektion gefördert und dabei die Würde des Menschen gering geachtet wird.

Im übrigen ist in der gerade brodelnden Wirtschaftskrise deutlich geworden, wie um des Profits willen nicht das Leben, sondern die Lebensgier im Vordergrund steht.

Hier sehe ich die eigentliche Frontlinie. Wir haben es nicht mit einer Partei oder gar mit dem Staat oder der jeweiligen Regierung zu tun, wenn es gilt, für den Schutz des Lebens zu streiten, sondern mit ganz bestimmten Ausprägungen des Zeitgeistes in der pluralen Gesellschaft. Diese Frontlinie geht quer durch alle Lager und Bereiche. Ja, die ewige Versuchung geht bisweilen auch mitten durch unser Christenherz, jene uralte Frage der Schlange: „Sollte Gott etwa gesagt haben ...?“  

Aufgaben der Kirche, das Leben zu schützen

Was aber sind die Lebensschutzaufgaben der Kirche in der pluralen Gesellschaft?

Für den Schutz des Lebens setzen wir Christen uns nicht einfach deshalb ein, weil wir vom Leben gewissermaßen eine ,religiöse Sicht‘ haben. Wir glauben, dass das Leben eine Gabe Gottes ist und die Gottebenbildlichkeit des Menschen ein Ausdruck des Bundes, den Gott mit uns geschlossen hat. Unser Einsatz für die Würde von behinderten Menschen und für den  Schutz des Lebens in einer säkularen und pluralen Gesellschaft setzt darauf, dass wir für etwas eintreten, was unabhängig von religiösen oder weltanschaulichen Begründungen für alle Menschen Evidenz besitzt. Wir sprechen die Menschen an auf etwas, das alle betrifft und eine zentrale und bedrängende Frage für jeden werden kann.

Die Tugend des Teilens, die Kunst des Schönen, die Kultur der Vergebung und die Lebenskraft der Versöhnung sind offensichtlich lebensdienlich und sind ethische Ressourcen, ohne die diese Welt und das Leben in ihr unerträglich wären.

Das ist plausibel im Grunde auch für die, die die Herkunft dieser Ressource nicht kennen. In diesem Sinne können auch Nichtchristen verstehen, was mit dem Motto „Gemeinsam mit Grenzen leben“ gemeint ist. Nun also zur Frage: Was sind die Aufgaben der Kirche bei den Bemühungen um die Würde jedes Menschen und den Schutz menschlichen Lebens in der pluralen Gesellschaft? Ich will einige wichtige Punkte nennen ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

·        Das Eintreten für einen gesellschaftlichen Konsens

Eine entscheidende Aufgabe der Kirchen ist, in der pluralen Gesellschaft zur Konsensbildung in diesen Fragen beizutragen. Es muss eine Art ,Gesellschaftsvertrag‘ über die Achtung der Würde von Behinderten und den Schutz des Lebens geben. Eine Gesellschaft mag so plural sein, wie sie will, wenn jedoch all die verschiedenen Menschen und Gruppen nicht mehr in den zentralen Fragen des Lebens, dazu gehört das Grundrecht auf unversehrtes Leben und die Grundsicherung des Überlebens, einen gemeinsamen Nenner finden, dann sind die Lebensgrundlagen dieser Gesellschaft gefährdet.

Der Konsens zielt auf Inhalte, die im Wertesystem unserer Gesellschaft zu wahren sind. Er ist nicht einfach identisch mit einer Mehrheitsmeinung. Das, was in der Bevölkerung als normal gilt, ist nicht damit schon normativ. Der Konsens, um den es uns gehen muss, ist ein Konsens in Sachen Menschlichkeit und Lebenschancen. Konsens für das Leben bedeutet Dissens mit allem Lebensfeindlichen. Aufgabe der Kirche ist es deshalb, nicht für Konsens und Verständigung an sich einzutreten, sondern für eine Koalition von Menschen guten Willens für den Schutz des Lebens.

Wenn wir zurückblicken auf die großen konfliktreichen Diskussionen über Abtreibung, Frieden, Umwelt, dann können wir zwar sagen, dass es zu Konsensbildungen, zu beachtenswerten Fortschritten und zu gemeinsamer ethischer und politischer Willensbildung kam. Aber wir können nicht sagen, dass wir mit der Lösung der so bewegenden Fragen zu irgendeinem ,Ende‘ gekommen wären. Selbst wenn ein Meinungsstreit in der pluralen Gesellschaft verebbt und Ruhe an den Fronten einkehrt, sind wichtige Kernfragen weiter strittig. Bitterkeit über Ungelöstes und Enttäuschung über Nichterreichtes bleiben. Aufgabe der Kirchen ist es, den langen Atem aufzubringen, den die Konsensbildung fordert, und in der Hoffnung auf Erreichbares nicht nachzulassen.

Selbst auf das Risiko hin, uns dabei dem Vorwurf auszusetzen, nicht auf der Höhe der Zeit zu sein, müssen wir beharrlich auch zu den Themen sprechen, die aus dem Blick der Modethemen heraus gefallen sind.

Die Kirchen sind keineswegs selbst ein Hort des Konsenses. Sie haben zwar eine große Chance, zu einem Konsens in der Gesellschaft beizutragen und in ihren eigenen Reihen einen „stellvertretenden Konsens für die Gesellschaft“ (Eberhard Müller) zu erarbeiten, aber sie machen dabei Bekanntschaft mit dem Dissens und auch mit der Ermüdung in den eigenen Reihen. Die Kirchen haben Teil an der pluralen Gesellschaft und spiegeln die Meinungen, Parteiungen, Gruppen und Schichten wider.

Wer eintritt für den Schutz des Lebens, wird den Streit riskieren und sich kritisch mit jenen auseinandersetzen müssen, die im Blick auf den Lebensschutz oder die Würde des Menschen problematische Positionen vertreten.

·        Ein Beispiel

Der Ethiker Peter Singer vertritt in seiner „Praktischen Ethik“, die er 1979 veröffentlicht hat, die These, „dass das Leben eines Fötus nicht mehr wert ist als das Leben eines nichtmenschlichen Lebewesens auf einem ähnlichen Stand der Rationalität, des Selbstbewusstseins, des Bewusstseins, der Fähigkeit zu fühlen usw. und dass, weil ein Fötus keine Person ist, ein Fötus nicht denselben Anspruch auf Leben hat wie eine Person.“ Singer fährt fort: „Nun muss man zugeben, dass sich diese Argumente eben sowohl auf Neugeborene wie auf Föten anwenden lassen. Ein Neugeborenes, das eine Woche alt ist, ist kein rationales und selbstbewusstes Wesen, und es gibt viele nichtmenschliche Lebewesen, deren Rationalität, Selbstbewusstsein, Wahrnehmungsfähigkeit, Fähigkeit zu fühlen usw. die Fähigkeit eines eine Woche oder einen Monat alten Säuglings übertreffen. Wenn der Fötus nicht denselben Anspruch auf Leben wie eine Person hat, dann hat ihn das Neugeborene offensichtlich auch nicht, und das Leben eines Neugeborenen hat für dieses weniger Wert als das Leben eines Schweins, eines Hundes oder eines Schimpansen für das nichtmenschliche Tier.“

Hier werden Wert und Personsein eines Menschen festgemacht an Bewusstsein, Rationalität, Selbstbewusstsein und der Fähigkeit zu fühlen. Diese Auffassung von Leben hat nichts mehr zu tun mit Gottes Bild, eher mit Tieren, mit Schwein, Hund oder Schimpanse. Damit ist ein gedanklicher Dammbruch vollzogen, der Zugriff auf behindertes Leben, auf das noch Ungeborene und auf das schon Geborene wird möglich. Hier ist die geistige Wurzel, die auch für die Euthanasieprogramme der Nazis maßgeblich war.

In den Überzeugungen und Einstellungen der Menschen wird der Grund gelegt für das, was im konkreten Fall geschieht. Achtung oder Missachtung des Lebens sind in der Gesellschaft stets geistig vorbereitet. Es ist die Aufgabe der Kirche, sich auch mit bizarren ethischen oder weltanschaulichen Ansätzen kritisch auseinander zu setzen und darin Anwalt für das Leben zu sein. Es gilt, die Augen offen zu halten, zu beobachten, zu warnen und sich kritisch in die Diskussion einzuschalten.

·        Die Förderung von Wahrnehmungsfähigkeit, Problem- und Wertbewusstsein

Aufgabe der Kirchen ist es weiterhin, sich Kompetenz im Blick auf die Probleme der Menschen zuzulegen und für Problembewusstsein in der pluralen Gesellschaft zu sorgen.

Es ist immer wieder verblüffend, wie lautstark ohne ausreichende Problemkenntnis über den Lebensschutz diskutiert wird. So ist es eine bedrückende Erfahrung, wie etwa die Diskussion um die Frage der Spätabtreibungen geführt wird.

Wahrnehmungsfähigkeit und Problemkenntnis zu beweisen bedeutet, nahe bei den Menschen zu sein und ein Gespür für die Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit des Lebens zu entwickeln.

Aufgabe der Kirche ist es, zur Vermittlung von Werten und zu einem Wertbewusstsein in der Gesellschaft beizutragen. Bei der Frage des gemeinsamen Lebens von Behinderten und nicht Behinderten spielen die aktuellen Meinungen und Einstellungen in der Bevölkerung und die in der Kultur eines Volkes vorhandenen Überzeugungen und Wertorientierungen eine wichtige Rolle. Einstellungen sind nichts Statisches, sie können sich zum Besseren und zum Schlechteren wandeln. Darum sind Aktionen wie die Woche für das Leben und die Arbeit des Institutes, das heute hier mit veranstaltet, so wichtig. Mit unseren Argumenten, mit Erklärungen, mit Aktionen und Überzeugungsarbeit können Anstöße gegeben werden zu einem Umdenken in der Bevölkerung und zu einem größeren Bewusstsein für den Wert und die Verletzlichkeit des Lebens.

Sicherlich, wir müssen unsere Möglichkeiten sehr nüchtern sehen. Oft sind es ja Fakten und Ereignisse der Zeitgeschichte und nicht so sehr die guten Worte, die Einstellungen ändern und zu einem Meinungswandel in der Bevölkerung beitragen. Dennoch glaube ich, dass wir etwas ausrichten können. Wir können nachdenklich gewordene Menschen bestärken. Wir können Engagierte ermutigen. Wir können uns als Mitstreiter mit solchen zusammen tun, die vor einer besorgniserregenden Entwicklung warnen.

Schlussbemerkung

„Gemeinsam mit Grenzen leben“ – das Motto für die diesjährige Woche für das Leben fordert dazu auf, sich mit Gottes Kraft und Hilfe für das Leben einzusetzen, für die vielen Menschen die in ihrem Alltag Situationen der Einschränkung, Ausgrenzung und Mutlosigkeit erleben. Wer sich auf sie einlässt, erfährt aber auch, wie viele mit Stärke und Freude in der Gemeinschaft mit anderen leben können.

Gemeinsam sind wir Söhne und Töchter Gottes, Gottes Haushalter und Miterben Christi, und als solche wollen wir leben und Lebensbedingungen gestalten. Im Psalm 8 heißt es vom Menschen: „Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.“ (Vers. 6) Ich bin fest davon überzeugt, dass wir in der pluralen Gesellschaft in unserem Engagement für das Leben und für eine menschenwürdige Gesellschaft Mitstreiter und Bundesgenossen finden.